Die Zerbrechlichkeit der Welt. Stefan Thurner
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WIE BRINGT MAN DATEN IN EINEN KONTEXT?
Daten beschreiben fast immer eines von zwei Dingen: Entweder sie geben die Eigenschaften von Dingen wieder, zum Beispiel wie viel Geld Frau Müller am Konto hat oder wie schnell das Auto von Herrn Mayer gerade jetzt fährt. Oder sie geben an, wie eine Sache mit einer anderen in Verbindung steht. Letzteres ist nichts anderes als eine Verbindung in einem Netzwerk, ein »Link«. Also zum Beispiel: Herr X hat am 2. Juni 2020 Frau Y angerufen, das heißt, am 2. Juni waren X und Y durch ein Telefonat in Verbindung, es bestand ein »Kommunikationslink von X nach Y«. Diesen Link kann man nun in einer Datenbank speichern.
Daten sind bereits oft in einer Form, die die Essenz von komplexen Systemen ausmacht. Sie bilden bereits ab, was für die Beschreibung von komplexen Systemen notwendig ist: die Eigenschaften der Bauteile und die Netzwerke zwischen ihnen. Das ist der Grund, weshalb die Wissenschaft Komplexer Systeme wunderbar mit Big Data zusammenpasst.
Wenn es gelingt, in Daten einen Kontext herzustellen, können wir damit fantastische Dinge tun. Wir können daraus vollkommen neuartiges Wissen gewinnen und neue Einsichten, zum unmittelbaren Nutzen für die Menschheit. Diese Kopie gibt uns die Möglichkeit, den Homo Sapiens und seine Gesellschaften, Institutionen und sozialen Systeme erstmals wirklich zu verstehen, in einer Qualität, die bisher nur in den Naturwissenschaften möglich war. Fast so wie im Pardus-Spiel – nur in echt.
Diese Entwicklung ist mitunter das Spannendste, das ich bisher erlebt habe, denn es erlaubt der Menschheit in weiterer Folge, die Planung unserer Gesellschaft in Zukunft weitaus besser in den Griff zu bekommen. Und sie schafft eine ernstzunehmende Möglichkeit, die »großen Probleme« rational anzugehen und zu meistern.
Die Wissenschaft komplexer Systeme versucht systematisch, Kontext in Daten herzustellen. Um das zu tun, bedient sie sich oft sogenannter Agenten-basierter Modelle. Das sind Computermodelle, bei denen die Bauteile eines Systems als »Agenten« abgebildet werden. Diese Agenten haben Eigenschaften und stehen in Beziehungen zueinander. Diese Beziehungen bilden Beziehungsnetzwerke. Die Modelle beschreiben dann anhand sogenannter update-Regeln, die in Computeralgorithmen implementiert werden, wie sich die Agenten aufgrund der Beziehungen zueinander verändern, und wie sich die Beziehungen aufgrund der neuen Eigenschaften der Agenten zeitlich ändern. Der Algorithmus beschreibt also die zeitlichen Updates von Agenten und Netzwerken. Daten werden dann dazu verwendet, um die update-Regeln zu identifizieren, und um die Eigenschaften der Bauteile sowie die der Netzwerke möglichst realistisch abzubilden.
Besser verständlich wird die Sache anhand eines Beispiels, wie sich Viren ausbreiten. Menschen – die Agenten – haben immer eine von drei Eigenschaften: Sie sind entweder gesund und sind durch einen speziellen Virus ansteckbar, oder sie sind angesteckt und krank, oder sie sind nach überstandener Krankheit wieder gesund und immun und können daher nicht noch einmal angesteckt werden. Diese Agenten stehen über soziale Netzwerke miteinander in Verbindung. Immer, wenn eine Verbindung zwischen einem angesteckten und einem ansteckbaren zustande kommt, kann der ansteckbare angesteckt werden und seine Eigenschaft verändert sich. Seine sozialen Netzwerke ändern sich ebenfalls: Sobald ein Agent glaubt, dass sein Freund angesteckt ist, vermeidet er einige Tage den Kontakt, um nicht selbst angesteckt zu werden. Das nennt sich Social Distancing.
Wenn sich alle so verhalten, lässt sich nicht nur ausrechnen, wie sich die Seuche ausbreitet, sondern auch, wie sich Sozialkontakte über den Seuchenverlauf hinweg verändern. Wenn man das Social Distancing nicht berücksichtigt, kommt man manchmal auf extrem falsche Vorhersagen über die Seuchenausbreitung. An solchen bestand kein Mangel während der Corona-Krise.
Durch das erwähnte »in Kontext bringen« und durch das Verbinden von Agenten durch Netzwerke entsteht in der Wissenschaft komplexer Systeme manchmal eine Zusammenschau von verschiedenen Disziplinen. Es entsteht sogenannte Interdisziplinarität. Die Komplexitätsforschung verbindet das Fachwissen aus mehreren verschiedenen Bereichen, wie etwa der Physik, der Biologie, den Sozialwissenschaften, der Chaostheorie oder der Spieltheorie und der Theorie der Differenzialgleichungen aus der Mathematik.
KOMPLEX ODER KOMPLIZIERT?
Viele Phänomene und Systeme sind kompliziert. Sie sind deswegen aber noch lange nicht komplex. Wie wir besprochen haben, entsteht Komplexität erst, wenn die unterschiedlichen Bauteile eines Systems und ihre Verbindungen sich gegenseitig beeinflussen und sich in enger Abhängigkeit voneinander über die Zeit hinweg verändern.
Ein Beispiel aus der Physik: Die Planetenbewegung ist vielleicht kompliziert, speziell wenn man sie selbst berechnen soll, aber sie ist nicht komplex. Die Bauteile, nämlich die Sonne und die Planeten ändern sich nicht, nur ihre Position verändert sich. Auch ändert sich die Interaktion zwischen ihnen nicht. Die Wechselwirkung bleibt immer dieselbe: die Schwerkraft. Diese ändert zwar die Position der Planeten, aber die Bewegung der Planeten ändert in der klassischen Physik nichts an der Schwerkraft. Die Wechselwirkung bleibt dieselbe. Das System ist also nicht komplex. Auch eine Rakete, die zum Mond fliegt, ist nicht komplex. Sie folgt bekannten, vielleicht manchen etwas kompliziert anmutenden Differenzialgleichungen. Es kommen aber keine sich verändernden Netzwerke vor.
Ganz anders verhält es sich bei gesellschaftlichen Phänomenen. Wieder ein einfaches Beispiel: Ein Freund, mit dem ich durch einen »Freundschaftslink« verbunden bin, schenkt mir ein Buch zum Geburtstag. Die Lektüre ändert nun zum Beispiel nachhaltig meine Sichtweise zum Thema Tierschutz. Am nächsten Tag gehe ich in eine Tierklinik und spende ihr tausend Euro, was mir nicht nur Freude macht, sondern auch viele neue Freunde einbringt. Die Interaktion, mit der mein Freund mir das Buch geschenkt hat, ändert zunächst meine Eigenschaften, indem sie meinen Altruismus steigert, und bringt mir dann eine Menge neuer Interaktionen ein.
Durch die Veränderung der Individuen verändert sich das Netzwerk ihrer Freundschaften, und durch die Veränderung des Freundschaftsnetzwerkes verändern wir uns als Individuen. Das ist komplex.
NETZWERKE, NETZWERKE, NETZWERKE
Die meisten komplexen Systeme sind natürlich auch sehr kompliziert. Als Faustregel gilt: Wenn sich ein Netzwerk über die Zeit hinweg verändert und sich dadurch die Eigenschaften der Komponenten des Netzwerks verändern, dann ist ein System meist auch komplex. Mit dieser Definition wird nun klar, welche Systeme tatsächlich komplex sind: Jedes Ökosystem, jedes soziale System, jedes Finanzsystem, jede Zelle ist komplex. Aber auch jedes Lebewesen, ein Ameisenhaufen, das Gesundheitssystem, das Klima, das Internet und so fort. Das alles sind komplexe Systeme.
Als Organismen sind Menschen selbst komplexe Systeme. Sie sind umgeben und eingebettet in natürliche komplexe Systeme. Als soziale Wesen errichten sie ständig neue komplexe Systeme, wie zum Beispiel ihre sozialen Netzwerke. Die Welt besteht aus miteinander verwobenen, interagierenden, aufeinander einwirkenden und sich ständig verändernden komplexen Systemen.
Hinter vielen komplexen System stehen oft mehrere dynamische Netzwerke, die miteinander direkt zusammenhängen und sogenannte »Netzwerke von Netzwerken« bilden. So zum Beispiel hängen das Stromversorgungsnetzwerk, das Internet und das Kommunikationsnetzwerk zusammen. Das wird bei einem Stromausfall deutlich: Wenn ein umstürzender Baum eine Stromleitung lahmlegt und ein Transformator durchbrennt, sollte diese Störung natürlich über das Kommunikationsnetzwerk an eine Reihe von Personen weitergeleitet werden. Wenn durch den Stromausfall aber die Stromversorgung des Internets