Die Bewohnbarkeit der Erde (E-Book). Helmut Schreier

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Die Bewohnbarkeit der Erde (E-Book) - Helmut Schreier

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kein Totalverbot, sondern die umsichtige und sparsame Anwendung. Entscheidend waren vielleicht ihre Auftritte im Fernsehen und als Zeugin vor dem Kongress. Sie erschien, im Gegensatz zu ihren polemischen Kontrahenten, als ganz und gar sachbezogen, überlegen sachkundig und souverän.

      Der interessierteren Öffentlichkeit war sie vor der Kontroverse als liebenswerte Verfasserin weit verbreiteter Fachbücher über das Leben der Ozeane bekannt geworden, Bücher, in denen sie Fachkenntnisse mit poetischen Schilderungen verband. (Mir selber ist eine Passage aus dem 1957 auf Deutsch erschienenen «Am Saum der Gezeiten. Eine Küstenwanderung» in Erinnerung, in der sie eine Krabbe beschreibt, die auf den Steinen im Brandungssaum auf das Ansteigen der Flut wartet: Diese Krabbe sei auf ähnliche Weise in den Rhythmen ihrer Welt zu Hause wie sie, die Betrachterin, in ihrer eigenen.) Rachel Carson legte als Schriftstellerin ihre Zuneigung zu allen Lebewesen an den Tag. Das Anklagen fiel ihr schwer, aber die zunehmende Vergiftung der Welt liess ihr keine Wahl. Sie hat das Buch «Der stumme Frühling» dem freundlichen Albert Schweitzer gewidmet, den sie aber mit einer düsteren Vorhersage zitiert: «Für Albert Schweitzer, der gesagt hat ‹Der Mensch hat die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen, verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören›»

      Mir erscheint der Text aus dem Jahre 1962 als Grundlage für das Verständnis der heutigen Lage der Dinge immer noch bestens geeignet. Im Kapitel «Elixiere des Todes» erklärt die Verfasserin die chemische Zusammensetzung und Wirkweise von Giften, vor allem die der Chlorkohlenwasserstoffe (unter denen DDT das schwächste ist), aber auch die der organischen Phosphate (Parathion – E 605, Malathion) und schliesslich die der systemischen Insektizide, die sie mit dem giftigen Gewand vergleicht, das – nach dem altgriechischen Mythos – die Zauberin Medea ihrer verhassten Nachfolgerin in Jasons Bett zum Geschenk machte. Neonikotinoide sind systemische Tötungsmittel, die zu Rachel Carsons Zeiten noch nicht bekannt waren. Sie wurden bei Bayer erst im Lauf der 1980er-Jahre entwickelt und 1985 patentiert. Auch Glyphosat, Hauptbestandteil des von Monsanto mit enormen Umsätzen vertriebenen Herbizids Roundup, war in den sechziger Jahren noch nicht auf dem Markt. Carson behandelt die speziell zum Abtöten von Pflanzen («Unkraut») entwickelten Gifte in ihrer Auflistung von «Elixieren des Todes». Sie berichtet aus Regionen Amerikas von Fällen, in denen selbst hoch verdünnte und vergleichsweise spärliche Dosierungen der als «harmlos für Mensch und Tier» geltenden Herbizide zum Verschwinden von Fischen, Vögeln und Säugetieren führten. Das anfangs zur Überraschung der zuständigen Fachleute, deren Recherchen dann allerdings zeigten, dass selbst winzige Mengen der Gifte von kleinsten Algen aufgenommen und gespeichert werden – nichts verschwindet – und dass die Zunahme der Giftstoffe über die Nahrungskette in enormen Sprüngen anschwillt, sodass Tiere am Ende der Nahrungskette von einer Überdosis umgebracht werden, deren Heftigkeit sich keiner hatte vorstellen können.

      Während ich diesen Text im Jahr 2019 schreibe, ist in verschiedenen Gerichtsbarkeiten weltweit die juristische Auseinandersetzung darüber in Gang gekommen, ob Glyphosat als Krebs erzeugende Chemikalie einzuordnen ist oder als ein für Menschen harmloses Mittel der Agrarwirtschaft. Carson wäre, so scheint mir, auf Seiten der Glyphosat-Gegner, die den Einsatz des Giftes zu verhindern suchen. Die Quintessenz von Carsons Lehre liegt in der Vorstellung des Verwobenseins aller Lebewesen miteinander. Das ist die elementare ökologische Einsicht, die sämtliche nachfolgenden Einsichten informiert und durchtränkt. Ganz gleich, ob ein Gift an einer bestimmten Stelle der Nahrungskette eingeimpft oder über Wasser, Luft und Boden in die Welt eingeschleust wird – es verbreitet sich über alle Lebewesen bis in fernste Gegenden hinein und landet über kurz oder lang mit Sicherheit auch im Organismus von Menschen. Wir speichern die Insektizide, Herbizide, Pestizide ebenso wie Schwermetalle, Arsen, Dioxin und andere Schadstoffe in unseren Lebern und Lungen und in den Fettschichten um unsere Eingeweide. Alle Gifte, die Insekten, Pilze, unerwünschte Pflanzen töten, sollten Biozide heissen, sagt Rachel Carson an einer Stelle am Anfang ihres Textes: Lebenskiller.

      Das Buch erschien 1962 neben der Buchausgabe als eine Artikelserie im «New Yorker» und erreichte als «Book of the Month» auch Schichten der Bevölkerung, die ausser Büchern dieser Reihe andere Lektüre kaum kannten.

      Die von der Chemieindustrie betriebene Kampagne gegen Carsons Plädoyer mobilisierte eine Gegenbewegung wissenschaftlicher Kräfte auf Seiten Carsons und beeinflusste die Bildung der öffentlichen Meinung, was zur Einrichtung eines Untersuchungsausschusses des Kongresses beitrug.

      Rachel Carson selbst war gezwungen, sich aus dem immer weitere Kreise erreichenden Aufklärungsprozess zurückzuziehen: Seit der Entfernung eines malignen Tumors aus der Brust im Jahr 1960 hatte sie sich einer Strahlenbehandlung unterziehen müssen, die sie zunehmend schwächte. 1964 starb sie.

      In den folgenden Jahren formierte sich eine Kampagne zum Verbot von DDT, und 1970 wurde die Umweltbehörde (EPA) gegründet, von der es hiess, sie sei der verlängerte Schatten des «Stummen Frühlings». Auch das im Jahre 1972 in den USA – denen sich alsbald die meisten westlichen Länder anschlossen, so auch die Bundesrepublik Deutschland – verfügte Verbot von DDT kann als Ergebnis von Rachel Carsons Argumentation in diesem Buch bezeichnet werden.

      Wer hätte dies Ergebnis erwartet? Und doch war es geschehen: Beharrliche Aufklärung der Öffentlichkeit und der entscheidenden Personen in Politik und Justiz hatten den mächtigen Verbund von Agrarwirtschaft und Industrie in diesem Punkt bezwungen und zum Verbot der Produktion und der Anwendung des überall eingesetzten Umweltgiftes DDT geführt.

      Das Konzept Nahrungskette: Grundstein beim Aufbau ökologischer Einsichten

      Vielen von uns Pädagogen erschien es damals, dass in dem Vorgang auch der entscheidende Hinweis steckte, um den Schulunterricht als Mittel gegen die neue oder die neu erkannte Bedrohung der von den Menschen selbst verursachten Umweltvergiftung ins Spiel zu bringen. Während der siebziger Jahre wurde in etlichen Schulen und bald auch in den Lehrplänen das Konzept der Nahrungskette als elementarer Baustein einer ökologischen Weltsicht vermittelt, wie sie schon kleine Kinder begreifen konnten (Blatt – Wurm – Vogel). Man fand Wege, die Anhäufung von Schadstoffen bei den einzelnen Gliedern einer Nahrungskette mit Hilfe ansteigender Mengen von Punkten deutlich zu machen. In den mittleren Schuljahrgängen wurde dann das Konzept der Nahrungspyramide entwickelt. Anhand des sich zur Spitze hin verjüngenden Aufbaus der Pyramide von Meereslebewesen (vom Plankton über kleinere und grössere Fische bis zum Thunfisch) liess sich mit Hilfe von Punkten, die bei jeder Ebene der Pyramide vermehrt wurden und schliesslich zu Punktwolken anschwollen, das Konzept der Anhäufung von Giftstoffen – etwa von Quecksilber – durch zunehmende Speicherung im Fettgewebe der aufeinander aufbauenden Organismen vorstellen. Beliebt war auch die Darstellung von Nahrungsnetzen als rollenspielartige Demonstration. Nachdem die Nahrungsabhängigkeiten von Pflanzen und Tieren etwa des Waldes erklärt waren, übernahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Rolle je eines dieser Lebewesen, und anhand eines langen Fadens, der über Stationen von Teilnehmerin zu Teilnehmer führt und öfters mehrere von ihnen miteinander verbindet, wird das Netz der miteinander verwobenen Abhängigkeiten gewissermassen handgreiflich vor Augen geführt. Diese Vorstellung kann später als Grundmuster der biologischen Textur das darauf aufbauende, abstraktere Konzept vermitteln helfen, das die Lebensvorgänge insgesamt als Stoffwechselaustausch der Lebewesen untereinander versteht, und dies Konzept dient seinerseits (auf fortgeschrittenem Niveau) als Grundlage für Berechnungen von Energieströmen in Begriffen von Kilokalorien. Ich selbst arbeitete während der siebziger und achtziger Jahre in der Lehrerausbildung, trug Beispiele für die Umsetzung dieser Nahrungsabhängigkeitsmuster zusammen, die ich mit verschiedenen Akzentuierungen und Illustrationen in der didaktischen Literatur verschiedener Länder fand (Dänemark, England, Italien, Schweden, Schweiz und Tschechoslowakei), und liess die Beispiele von Studierenden vergleichen.

      Der Lehrplan, der hier sichtbar hervortrat, war in vollständiger Form – von der Kette zur Pyramide zum Netz zur Berechnung der Energieflüsse in Begriffen von Kilokalorien – vielleicht nirgendwo exakt so durchgeführt worden. Aber die ökologischen Grundbegriffe (Nahrungskette, Nahrungspyramide, Nahrungsnetz)

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