Relationalität in der Gestalttherapie. Frank-M. Staemmler
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Es liegt in der komplexen Natur dieser Fragestellungen, dass es nicht einfach war, meine Gedanken dazu in eine sinnvolle und einigermaßen leicht nachvollziehbare Struktur zu bringen. Als grobes Kriterium für meine Gliederung des folgenden Textes habe ich die historische Entwicklungslinie der vergangenen Jahrzehnte genutzt, die sich in vielen Therapieformen durch die Auseinandersetzung mit Fragen der Relationalität hindurchzieht.
Da ich mich mit der Geschichte der Gestalttherapie besser als mit der von anderen Verfahren auskenne, zeige ich hauptsächlich anhand der Entwicklung der Gestalttherapie auf, was in ähnlicher Weise z. B. für die Psychoanalyse oder die Personzentrierte Psychotherapie, ja selbst für die Kognitive Verhaltenstherapie gilt: Sie alle nahmen ihren Anfang in einem mehr oder weniger ausgeprägten Individualismus und einer ihm entsprechenden ›Eine-Person-Psychologie‹ und setzten sich später in einer relationalen Wende‹ fort, die die Bedeutung zwischenmenschlicher Interdependenz und eine ›Zwei-Personen-Psychologie‹ zunehmend in den Vordergrund rückte.
Theoretische Ergänzung 1
Dem ungarischen Zweig der frühen Psychoanalyse, repräsentiert durch Sandor Ferenzci und Michael Balint, kommt eine wichtige Rolle als Wegbereiter der relationalen Wende in der Psychoanalyse zu. Diese übte einen Einfluss auf die relationalen Entwicklungen in den anderen therapeutischen Ansätzen aus, so auch in der Gestalttherapie. In diesem Zusammenhang ist aus gestalttherapeutischer Sicht mit Respekt und Bescheidenheit zu erwähnen, dass der Beginn der relationalen Wende in der Psychoanalyse dem in der Gestalttherapie zeitlich um viele Jahre vorausging; außerdem nahm der psychoanalytische Diskurs zu diesem Thema ab den 1970er- Jahren sehr schnell Fahrt auf und seither einen sehr viel größeren Raum in der entsprechenden Literatur ein, als das in der Gestalttherapie bis heute der Fall ist.8
Aber am Anfang stand wohl Ferenczi (1970a; 1970b); er überschritt in seinen letzten Lebensjahren die von Freud gesetzten Grenzen der psychoanalytischen Distanz und emotionalen Reserviertheit und ließ sich sehr persönlich auf die Beziehungen zu seinen Patientinnen ein. Freuds Rat hatte so gelautet:
Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen … Die Rechtfertigung dieser vom Analytiker zu fordernden Gefühlskälte liegt darin, daß sie für beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute möglich ist. (1912/1975, 175)
Ferenczi dagegen vertrat in seinem »klinischen Tagebuch« von 1932 (Ferenczi 1988) nicht nur die Ansicht, dass es »ohne Sympathie keine Heilung« geben könne,9 sondern engagierte sich auch in seiner therapeutischen Praxis für manche Patientinnen sehr viel mehr als es bis dahin üblich gewesen war (vgl. Haynal 1989). So experimentierte er z. B. mit einem Vorgehen, das er als »mutuelle Analyse« bezeichnete; dabei brachte er sich als Person selbst stark ein, trat entschieden aus der üblichen analytischen Anonymität heraus und praktizierte ein Verhalten, das später als »self-disclosure«10 der Therapeutin ernsthaft diskutiert wurde (vgl. auch den Abschnitt über »Persönliche Präsenz« in Kapitel 4.2).
Während Ferenczi dafür einerseits heftige Kritik erfuhr – Jones erklärte ihn sogar für »paranoid« (in Balint & Jones 1985, 68) –, erhielt er andererseits sehr viel Anerkennung, z. B. von Balint, der schrieb, dass »Ferenczis letzte Schriften … die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Technik um 15 oder 25 Jahre vorwegnehmen« (a.a.O.). – Ermann skizziert die historische Entwicklung so:
In der Psychoanalyse kann man die Zeit bis etwa 1940 als eine … Phase betrachten. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die innerseelischen Phänomene und Prozesse als Forschungsgegenstand galten. Hier handelt es sich um das intrapsychische Paradigma der Psychoanalyse. Danach sollte die Psyche (von Patienten) von einem außenstehenden Beobachter möglichst objektiv betrachtet und behandelt werden. Michael Balint sprach in diesem Zusammenhang von einer Ein-Personen-Perspektive …
Durch die Neubewertung der frühen Mutter-Kind-Interaktionen begann sich das Weltbild der Psychoanalyse und in der Folge auch ihre Praxis zu verändern. Zunehmend wurden jetzt die Interaktionen als bedeutender Bezugspunkt für das Verständnis seelischer Prozesse anerkannt. Damit entstand auch ein neues Denkmodell, das Beziehungsparadigma. (2014, 12 – H.i.O.)
Balint argumentierte als einer der ersten für diesen Paradigmenwechsel in einem Aufsatz, auf den ich etwas genauer eingehen möchte: Er stellte fest, dass »alle unsere Konzepte und technischen Begriffe – außer zweien – unter dem Vorzeichen der physiologischen Ausrichtung geprägt wurden und daher höchst individualistisch sind; sie reichen nicht über die Grenzen der individuellen Psyche hinaus. Die beiden Ausnahmen sind ›Objekt‹ und ›Objektbeziehung‹11« (1950, 120).12
Balint forderte dem gegenüber eine Neuorientierung, die »zuerst und vor Allem darauf abzielt, jeden Aspekt der Übertragung des Patienten im Kontext seiner Objektbeziehungen zu verstehen und zu deuten« (a.a.O., 119). Daraus leitete Balint schließlich ab: »Das wichtigste Forschungsgebiet … muss das Verhalten des Analytikers in der psychoanalytischen Situation sein bzw., wie ich vorziehe zu sagen, der Beitrag des Analytikers zur Entstehung und Aufrechterhaltung der psychoanalytischen Situation« (a.a.O., 121 – H.i.O.).
Aber bedauerlicherweise, so fährt er fort,
wurden fast alle unsere Begriffe und Konzepte bei der Untersuchung pathologischer Erscheinungen gewonnen, die kaum über den Bereich der »Eine-Person-Psychologie« hinausgehen … Aus diesem Grund können sie nur eine unbeholfene, ungefähre Beschreibung davon liefern, was in der psychoanalytischen Situation passiert und was ihrem Wesen nach eine Zwei-Personen-Situation darstellt. (a.a.O., 123 f.)
Abschließend bringt Balint die traurige Vermutung zum Ausdruck, dass »wir nur einige vage Ideen, aber kein genaues Wissen davon haben, welche Verzerrungen stattfinden und wie viel wir übersehen, wenn wir Zwei-Personen-Erfahrungen … in einer Sprache beschreiben, die zu Eine-Person-Situationen gehört« (a.a.O., 124).
Erst in den 1980er-Jahren sollte Balints Vision in nennenswerter Weise zur Substanz psychoanalytischer Theorie werden. Mit den Entdeckungen der Säuglingsforscher begann eine echte Wandlung von einer primär »intrapsychischen« Betrachtungsweise hin zu einer »intersubjektiven« Perspektive – so die nunmehr übliche Terminologie. Jessica Benjamin fasste es seinerzeit in diese Worte: Mit
der Vorstellung eines aktiven, zu sozialen Kontakten bereiten Säuglings, der sich von anderen differenziert und mit anderen Beziehungen aufnimmt, gelangen wir zum intersubjektiven Standpunkt. Der intersubjektiven Theorie zufolge entwickelt sich das Individuum in und durch Beziehungen zu anderen Subjekten. Wichtig dabei ist die Überlegung, daß der Andere, dem das Selbst begegnet, ebensolch ein Selbst ist – also ein eigenständiges Subjekt. … Anders als der intrapsychische Standpunkt fragt die intersubjektive Theorie nach dem, was zwischen dem Selbst und anderen geschieht. Während der intrapsychische Standpunkt das Individuum als abgegrenzte Entität mit einer komplizierten Innenstruktur erfaßt, befaßt sich die intersubjektive Theorie mit jenen Fähigkeiten des Menschen, die sich in der Interaktion des Selbst mit anderen entwickeln. (1990, 22 f.)
Der