Relationalität in der Gestalttherapie. Frank-M. Staemmler
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Dieser … Paradigmenwechsel, der längst noch nicht abgeschlossen ist, wird endlich der sozialen Natur des Menschen gerecht, der Tatsache also, dass Menschen ihre Lebenswelt miteinander teilen, dass sie sich real und mental aufeinander beziehen und dass jeder einzelne seine psychische Struktur und individuelle Persönlichkeit im Rahmen dieser Bezogenheit entwickelt. (Altmeyer 2016, 110)
Theoretische Ergänzung 2
Bei der »Natur des Menschen«, von der Altmeyer spricht, handelt es sich nicht um etwas im biologischen Sinne Natürliches. Was den Menschen gerade im psychosozialen Sinne ausmacht, hängt immer mit seiner Sozialität und Kulturalität zusammen. Ich ziehe es daher in Anlehnung an Hannah Arendt vor, von der sozialen »Bedingtheit« des Menschen zu sprechen, die einem tendenziell solipsistischen und größenwahnsinnigen Individualismus keinen Boden bietet.
Nun umfaßt aber die Condition Humaine, die menschliche Bedingtheit im Ganzen, mehr als nur die Bedingungen, unter denen den Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist. Menschen sind bedingte Wesen, weil ein jegliches, womit sie in Berührung kommen, sich unmittelbar in eine Bedingung ihrer Existenz verwandelt. … Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur. Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. Darum sind Menschen, was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen. (1960, 16 f.)
Wie Altmeyer schon andeutet, vollziehen sich historische Entwicklungen des Zeitgeists nicht in inhaltlich oder zeitlich exakt abgrenzbaren Phasen; das gilt selbstverständlich auch für die Geschichte der Psychotherapie. Insofern lassen sich für Perioden, in denen die individualistische Psychologie dominierte, durchaus schon Autoren und Konzepte benennen, die – zumindest in der Tendenz – eine ›Zwei-Personen-Psychologie‹ oder sogar schon eine ›Mehr-Personen-Psychologie‹ vertraten; bisweilen findet sich sogar in ein und derselben Quelle die für Übergangszeiten typische Mischung der Paradigmen.
Und umgekehrt kann man heute, nachdem die meisten therapeutischen Ansätze bereits in die Phase einer relationalen Wende eingetreten sind, durchaus noch individualistische Tendenzen feststellen; ich selbst ertappe mich immer wieder einmal bei solchen Tendenzen in meinem Denken, obwohl ich mich seit Langem um eine relationale Perspektive bemühe. Kulturell geprägte Denkmuster kann man nicht einfach hinter sich lassen; man muss sie und ihre Residuen zuerst immer wieder mühsam überhaupt als solche erkennen, um sie dann Schritt für Schritt verändern bzw. überwinden zu können. Schließlich – und das macht den Sachverhalt sehr vielseitig und manchmal schwer überschaubar – gibt es auch hinsichtlich dessen, was unter Relationalität verstanden wird, beträchtliche Unterschiede – von den praktischen therapeutischen Konsequenzen, die dann aus dem jeweiligen Verständnis abgeleitet werden, einmal ganz zu schweigen.
Auf den folgenden Seiten werde ich darlegen, wie ich zu meinem derzeitigen Verständnis von menschlicher Relationalität gekommen bin, und formulieren, welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Gestaltung therapeutischer Beziehungen aus meiner Sicht ergeben. Wie schon angekündigt, werde ich dabei immer wieder an Traditionen und Entwicklungen der Gestalttherapie anknüpfen. Je weiter Sie, meine Leserinnen und Leser, mit Ihrer Lektüre fortschreiten, werden Sie jedoch bemerken, dass meine Überlegungen nicht innerhalb der Grenzen des gestalttherapeutischen Diskurses verharren. Ich hoffe daher, dass Kolleginnen und Kollegen aller therapeutischen Orientierungen in dem folgenden Text Anregungen für ihre Arbeit finden werden.
Denn ich stimme Jürg Willi zu, der mit der erforderlichen Allgemeinheit feststellt:
Die westliche Psychotherapie hat jahrzehntelang sehr einseitig Werte wie Autonomie, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung oder etwas weniger schön ausgedrückt den Egotrip betont … [und sich] v. a. mit der Befreiung des Individuums von sozialen Zwängen und Abhängigkeiten befaßt. Heute geht es aber wohl weniger um die Einengung als vielmehr um die fehlende Zugehörigkeit zu tragfähigen Gemeinschaften. (1994, 147)
3. Individualismus im Vordergrund: die 1960er- und ’70er-Jahre
»Psychologie« ist eine nur auf das seelische Geschehen als solches gerichtete und nur ihm angemessene Betrachtungsweise. Der umfassende Ganzheitscharakter des Menschen wird uns aber erst sichtbar im offenen Blick auf seine Weltsituation. Nur in der partnerischen Erschlossenheit zur Welt hin ist das Selbst des Menschen, das wir als seine Personenmitte verstehen, in actu. (Trüb 1951/2015, 15)
Heutzutage halten sich die meisten Gestalttherapeutinnen für auf die eine oder andere Weise relational orientiert. Zumindest kann man mit einiger Bestimmtheit sagen, dass es schwer sein dürfte, noch einen Gestalttherapeuten zu finden, der sich ausdrücklich als Vertreter eines individualistischen Ansatzes versteht. Dass wir heute an diesem Punkt sind, ist selbstverständlich zu begrüßen. Aber ich denke, es ist möglich, über den derzeitigen Stand hinaus zu gehen.
Um diese Behauptung nachvollziehbar zu machen, werde ich im folgenden Text zunächst in groben Zügen den historischen Faden innerhalb der Gestalttherapie nachzeichnen, der mit einem mehr oder weniger individualistischen Verständnis und einer entsprechenden therapeutischen Praxis begann und dann in den 1980er Jahren eine relationale Wende‹ nahm.
Theoretische Ergänzung 3
Ich werde im vorliegenden Text darauf verzichten, genauer zu bestimmen, was mit »Individualismus« gemeint ist. Ich habe das an anderer Stelle getan und verweise den interessierten Leser daher z. B. auf Bellah, Madsen, Sullivan, Swidler und Tipton (1987), Staemmler (2009a, 51 ff.) oder Wheeler (2006a, 35 ff.).
Als eine kurze Andeutung zitiere ich Geertz:
Die abendländische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewußtseins, Fühlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee. (1987, 294)
Diesem Menschenbild entsprachen die Vorstellungen davon, wie der Mensch, der sich einer Psychotherapie unterzog, aus ihr hervorgehen sollte. Jerome Frank charakterisiert diese Person so:
Sie war eine an sich selbst orientierte Person, von hohen moralischen Prinzipien geleitet, nach Erfolg strebend und unempfindlich für soziale Einflüsse, die sie dazu bringen könnten, ihre Prinzipien und Ideale zu verletzen. Diese Person hatte Angst vor zu viel Offenheit, durch die sie – erstens – anderen Kenntnis von ihren Schwächen geben könnte und es diesen dadurch ermöglichen würde, von ihnen zu deren Vorteil ausgebeutet zu werden. Wenn diese Person sich erlauben würde, zu besorgt um das Wohlergehen der anderen zu sein, würde es für sie – zweitens – schwieriger werden, ihre eigenen Ziele zu erreichen, wozu es notwendigerweise gehören würde, die anderen am Erreichen ihrer Ziele zu hindern. Ihr Erfolg hing davon ab, dass sie eine Fassade von Rechthaberei und Selbstvertrauen aufrechterhielt, was es erforderlich machte, innere Impulse zu verleugnen oder zu unterdrücken, die, wenn sie ins Bewusstsein gelassen würden, Selbstzweifel hervorrufen könnten. (1971, 351)
Auf die Zeit, in der ein individualistisches