Das Schuljahr nach Corona (E-Book). Armin Himmelrath
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” Eine Rückkehr im Schulalltag zum Stand von Anfang März 2020 wird es also nicht mehr geben, von der bisherigen Normalität wird Schule in Zukunft weit entfernt sein.
Doch was heißt das konkret? 23 Fachleute – von der Schulforscherin bis zum Elternvertreter, von der Lehrkraft bis zur Bildungspolitikerin – hatten im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Wochen im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie1 mit Ideen erstellt, wie es im neuen Schuljahr konkret weitergehen könnte. Dabei hatten die Forscherinnen und Forscher drei Szenarien entwickelt, wie guter Unterricht nach der Pandemie aussehen kann: mit Präsenzunterricht als Regelfall, mit einer Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht oder allein mit dauerhaftem Lernen zuhause. Die Gestaltung des Fernunterrichts sei dabei «eine originäre Aufgabe» der Schule und der Lehrkräfte, heißt es in dem Papier: «Zurzeit werden wesentliche Bestandteile dieses Auftrags wie selbstverständlich weitgehend auf die Eltern und Erziehungsberechtigten übertragen.» Mit anderen Worten: Schule dürfe sich nicht länger um ordentliche Fernlernkonzepte drücken. Denn: «Die Planungen des neuen Schuljahres sollten nicht von einer Wiederkehr des gewohnten ‹schulischen Regelbetriebs› ausgehen.»
Für die Zukunft empfiehlt die Expertenkommission daher einen umfangreichen Maßnahmenkatalog mit insgesamt 18 Einzelpunkten. Dazu gehören unter anderem:
–Präsenzunterricht, so die Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten, sei vor allem für die jüngeren Kinder wichtig. Mit steigendem Alter der Schülerinnen und Schüler sollte der Anteil des Fernunterrichts zunehmen.
–Mindestens ein persönlicher Kontakt pro Woche zwischen einer Lehrkraft und dem Schüler oder der Schülerin sei notwendig – per Telefonat, Videokonferenz oder bei einem persönlichen Treffen.
–Auch für das Lernen zuhause müsse es verbindliche Stunden- und Wochenpläne geben.
–Alle Schülerinnen und Schüler müssen mit digitalen Endgeräten ausgestattet sein. Haben sie kein eigenes Gerät, müsse die Schule ihnen ein Tablet oder einen Laptop leihen.
–«Im Schuljahr 2020/21 sollten Kürzungen in den Lehrplänen bzw. in den erwarteten Leistungszielen aller Fächer vorgenommen werden», schreiben die Expertinnen und Experten. Damit sollten Lehrerinnen und Lehrer «Freiräume für den pädagogisch-konstruktiven Umgang» mit den Folgen der Coronakrise bekommen. Auch die Zahl der Prüfungen und Klassenarbeiten sollte demnach reduziert werden.
–Auch bei der Benotung und ihren Folgen fordern die Expertinnen und Experten einen Sonderweg im kommenden Jahr: «Übergangsentscheidungen und die Vergabe von Abschlüssen sollten soweit möglich von Zensuren entkoppelt und auf das klassische Sitzenbleiben verzichtet werden», heißt es in der Studie.
Die Vorschläge erfordern, wenn sie denn konsequent umgesetzt werden, viel Mut auf Seiten der Bildungspolitik. Bei vielen Fachleuten allerdings stoßen sie auf überwiegend positive Resonanz. Denn die Corona-Krise wird von Schulakteurinnen und -akteuren auch als Chance begriffen: als Chance zum Umbau bisher verkrusteter Strukturen, als Möglichkeit zum Ausprobieren neuer Lernwege, als Anstoß zum Denken bisher ungedachter Möglichkeiten.
Die Autorinnen und Autoren, die innerhalb weniger Tage und Wochen ihre Beiträge zu diesem Sammelband erstellt haben, wollen zu diesem Umdenken ermutigen: Schule kann und darf nicht einfach wieder zurückfallen in den früheren Modus, sondern sollte den Schwung nutzen, der vielerorts gerade zu spüren ist; und sie sollte da, wo in den vergangenen Wochen und Monaten schwierige oder gar schmerzhafte Erfahrungen gemacht wurden, Lernbereitschaft zeigen und Neues wagen. Allerdings: Das eine Rezept, nach dem überall in Deutschland, der Schweiz und Österreich ab sofort der perfekte Unterricht gemacht werden kann, gibt es nicht. Die Anregungen sind so vielfältig wie die Autorinnen und Autoren, und so finden Sie in diesem Band wissenschaftliche Studien ebenso wie Essays, konkrete Handlungshinweise ebenso wie persönliche Erfahrungsberichte. Wir haben versucht, diese Vielfalt der Stile und Vorlieben so weit wie möglich beizubehalten.
Allen, die mit ihren Gedanken und Ideen dieses Buch bereichern, sind wir zu großem Dank verpflichtet – für die unkomplizierte und schnelle Zusammenarbeit, vor allem aber für die zahlreichen pädagogischen, strukturellen und politischen Anregungen, die das Buch für Sie als Leserinnen und Leser hoffentlich genauso interessant und spannend machen wie für uns als Herausgebende. Lassen Sie sich inspirieren – und nutzen Sie den Schwung für Veränderungen in Ihrer Schule und im gesamten Bildungssystem, wo sie nötig sind!
Julia Egbers, Armin Himmelrath
Cuxhaven/Köln, im Juli 2020
Gesellschaftlich-psychologische Ebene
Sozialisation in Krisenzeiten − der Lockdown offenbart die Defizite des deutschen Schulsystems
Ullrich Bauer und Klaus Hurrelmann
Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen verändern sich durch die Corona-Pandemie. Für die Mehrzahl von ihnen verschlechtern sich hierdurch die Bedingungen. Die Sozialisation in der Familie hat an Zeit und an Bedeutung gewonnen, diejenige in der Schule deutlich verloren. Die Kooperation zwischen diesen beiden wichtigen Erziehungsinstanzen erweist sich zugleich als gestört. Sowohl die Eltern als auch die Lehrerinnen und Lehrer sind auf die neuen Herausforderungen schlecht vorbereitet. Kinder und Jugendliche sind die eigentlichen Leidtragenden dieser Entwicklung.
Wie alle vorherigen legt auch die Corona-Krise Konflikte und Defizite frei, die in normalen Zeiten verborgen bleiben. Wir gehen in diesem Beitrag von der These aus, dass das auch im Bereich von Bildung und Sozialisation gilt. Wir greifen drei besonders gravierende Probleme heraus: die unsensible politische Steuerung des Bildungssystems, die mangelnde Entfaltung der digitalen Komponente des Lernens und die unzureichende Förderung von benachteiligten Schülerinnen und Schülern. Zugleich zeigen wir, wie sich aus dem Offenbarwerden dieser Probleme die Chance ergibt, überfällige Reformen anzustoßen.
1Gravierende Defizite des deutschen Schulsystems kommen ans Tageslicht
Noch gibt es sehr wenige Forschungserkenntnisse zu den Auswirkungen der mit der Corona-Pandemie einhergehenden Beeinträchtigungen des traditionellen schulischen Betriebs. Das «Deutsche Schulbarometer Spezial» (Robert Bosch Stiftung 2020), das «Schulbarometer» der Pädagogischen Hochschule Zug (Huber 2020) und die Analysen des «Forschungsverbundes Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit» (2020a und 2020b) erfassen erste Einschätzungen zu Fernunterricht und zur Wahrnehmung durch die Lehrkräfte und analysieren die Auswirkungen auf die Interaktion von Elternhaus und Schule. Alle Studien weisen auf eine große Belastung der Eltern, vor allem der Mütter hin, die durch die Schulschließungen, teilweise Neuöffnungen und die improvisierte Umstellung auf Fernunterricht entstanden sind.
Für eine sozialisationstheoretische Perspektive (Hurrelmann/Bauer 2019) sind diese Erkenntnisse zentral. Sie verweisen auf die direkte Sozialisationsrelevanz der pandemischen Bedingungen der vergangenen Monate. Sie fokussieren auf die Verarbeitungsfähigkeit junger Menschen, ihre Verwundbarkeit und die Rolle verfügbarer Ressourcen. Der sozialisationstheoretische Ansatz betrachtet zudem die Rolle der medialen Krisendarstellung, der Betroffenheit unmittelbarer Nahsysteme wie der Familie und natürlich der Erziehungs- und Bildungseinrichtungen als Sozialisationsagenturen. Die Schule ist in dieser Hinsicht intermediär. Sie stellt einen Nahraum