Weg mit dem Schussreflex!. Jes Lysgaard
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Zwei Jahre lang hatte ich Probleme mit Scheibenpanik, mit wechselnder Intensität. Durch einen Sturz, bei dem ich mir das Schlüsselbein ausgerenkt habe, entwickelte sich dieser unglückliche Reflex, mit dem ich dann so lange zu tun hatte.
Nur noch ein Millimeter, und der Pfeil steht dort, wo er sein soll. Dann verreiße ich den ganzen Schuss mit meiner Zugschulter, die Zughand fliegt seitlich weg, anstatt schön nach hinten zum Nacken zu gleiten, mein Bogenarm fällt und der Pfeil fliegt über das Ziel hinweg.
Da stand ich, beschämt über diesen schlechten Schuss in Gesellschaft der besten europäischen Schützen. Ich musste auch an meinen Sponsor Falco aus Estland denken, der mich jahrelang unterstützt hatte, mit den besten Bögen und Pfeilen. Was für eine miserable Leistung.
Dann ein einfacher Schuss und eine weitere Fahrkarte! Ich habe Angst, völlig von der Rolle zu kommen und versuche mit all meinen Mitteln und Techniken die Kontrolle zurückzugewinnen.
Bewusste Atmung, positives Selbstgespräch, positive Affirmationen, ja sogar schwedischer Schnupftabak! Aber ich komme einfach nicht zurück in den grünen Bereich, nichts hilft. Einige Schüsse gelingen gut und kontrolliert. Aber in meinem Hinterkopf lauern die schlechten, unkontrollierten Schüsse. Ich kann sie nicht vertreiben.
Jetzt bin ich völlig in der Abwärtsspirale gefangen, ich habe Scheibenpanik, so wie es viele Schützen kennen. Ich hatte es schon erlebt, aber noch nie so heftig wie dieses Mal.
Als mir klar wurde, in welche Richtung sich meine Punktzahl bewegte, musste ich das als völlige Niederlage hinnehmen. Ich fing an, das so zu akzeptieren und entspannte mich in Folge dessen. Das wiederum verbesserte mein Schießen und meine Ergebnisse wurden wieder konstant, aber für diesen Wettkampf war der Zug abgefahren.
Währenddessen dachte ich über mein Gefühlsleben nach, ausgelöst durch den Kontrollverlust und die mentalen Umwege als Folge der verrissenen Schüsse, die immer und immer wieder vorkamen. Durch den Wettkampfdruck und die starke internationale Konkurrenz war das alles verstärkt worden. Mit diesen Schützen hätte ich mich auf Augenhöhe messen müssen.
Europameisterschaft in Göteborg
Ich war durch die Aufregung angespannt und konnte die Techniken, die ich trainiert hatte, nicht so anwenden wie geplant. Ich konnte auch meine eigene Erwartungshaltung nicht ausblenden, genauso wenig wie die Erwartungshaltung und das Urteil anderer.
Die ganze Situation fühlte sich furchtbar an.
Ich wurde nicht Letzter, das konnte ich verhindern. Die dänische Nationalmannschaft lieferte ein besseres Ergebnis ab als je zuvor, und ich konnte mich mit den anderen freuen, obwohl ich selbst so schlecht abgeschnitten hatte. Aber mir wurde klar, dass ich nun von Grund auf ganz neu anfangen muss.
Lass uns zuerst klären, was der Schussreflex eigentlich ist und warum die meisten traditionellen Schütz*innen damit zu tun bekommen.
SCHUSSREFLEX
Wenn wir etwas Neues lernen, müssen wir uns dabei auf den Bewegungsablauf konzentrieren. Die Bewegungen sind nicht automatisiert und es haben sich auch noch keine Reflexe für die neue Bewegung gebildet. Wir führen die Bewegungen zunächst bewusst aus und später werden die Bewegungsmuster dann im Kleinhirn abgelegt. Wenn das passiert ist, kann eine Bewegung unbewusst ausgeführt werden.
Durch diese Automatisierung brauchen wir für eine Bewegung dann weniger Muskelarbeit. Es werden auch geistige Kapazitäten frei und wir können diese nutzen, um die Bewegung weiter zu optimieren oder können uns auch gleichzeitig mit anderen Dingen beschäftigen.
Wenn wir eine bewusste Bewegung initiieren wollen, geht der erste Impuls dafür vom präfrontalen Kortex im Gehirn aus. Von dort geht der Bewegungsimpuls zum prämotorischen Kortex, in dem die einzelnen Muskelgruppen untereinander koordiniert werden, und dann weiter zum motorischen Kortex. Vom motorischen Kortex verläuft das Nervensignal nun weiter zur Wirbelsäule und von dort zu den einzelnen Muskelgruppen.
Automatisierte Bewegung
Bei einer automatisierten Bewegung hingegen – bei deren Automatisierung sich ein Reflex gebildet hat –, wird die Bewegung durch den Schlüsselreiz ausgelöst. Das Bewegungssignal umgeht dabei den präfrontalen Kortex, in dem der bewusste Impuls für eine Bewegung eigentlich gestartet würde.
Der Impuls zum Lösen des Pfeils entsteht, wenn das Schlüsselsignal/der Trigger den prä-/motorischen Kortex unter Umgehung des präfrontalen Kortexes aktiviert.
Dieser leitet das Signal zum Lösen dann direkt zum Rückenmark und den Muskelgruppen.
Diese Bewegungssignale umgehen also den präfrontalen Kortex. Wenn die Bewegung - hier das Lösen - aber noch nicht erfolgen soll, wollen wir den Bewegungsimpuls zum Lösen unterdrücken.
Diese Unterdrückung wird als Impuls aus dem präfrontalen Kortex gesteuert, von dort also, wo die Bewegungen bewusst in Gang gesetzt werden.
Die Unterdrückung gelangt ebenfalls zum prä-/motorischen Kortex. Dort laufen nun zwei gegensätzliche Bewegungsimpulse auf. Der Impuls “Sehne halten” und der gegenläufige Impuls „Sehne lösen“ führen zu einer völlig unkoordinierten Bewegung.
Das ist es, was die meisten Schütz*innen erleben, wenn sie den Löseimpuls unterdrücken wollen. Dieser Schussreflex entsteht, wenn eine Bewegung aus zwei unterschiedlichen Hirnarealen mit zwei gegensätzlichen Bewegungsimpulsen gesteuert wird. Und diese daraus resultierende Bewegung fühlt sich nicht nur völlig unkontrolliert an - sie ist es auch.
Das war das physiologische Modell zum Schussreflex. Es erklärt, warum es so schwer ist den Reflex zu überwinden und wieder zu einer bewusst gesteuerten Bewegung zu kommen.
Warum entsteht der Reflex überhaupt?
Dazu gibt es unterschiedliche Theorien. Ich denke, die Erklärung des amerikanischen Psychologen Daniel Stern vermittelt das beste Verständnis, wie es zu dem Reflex kommt. Daniel Stern hat intensiv im Bereich der Mutter-Kind Bindungen und Erwachsenenbindungen geforscht.
Er hat sich aber auch mit der Verarbeitung von Reizen und Eindrücken im Hirn beschäftigt. Dabei fand er heraus, dass gleichartige Eindrücke denen wir oft ausgesetzt sind - wie Bilder oder Gerüche – in Gruppen gespeichert werden.
Rufen wir uns diese Bilder oder Erlebnisse ins Gedächtnis, so erinnern wir uns nicht an ein einzelnes Erlebnis, sondern an eine Art Mittelwert aus den Erinnerungen der abgespeicherten Erlebnisgruppe. Das nennt Stern einen RIG (Repräsentativwert einer Internalisierten Generalisation). Durch die Vielzahl der gleichartigen Eindrücke können die Einzeleindrücke nicht mehr voneinander unterschieden werden.
Gehen wir nun von dieser Theorie aus und berücksichtigen wir, dass unser Gehirn Bewegungen optimiert und automatisiert, wird klar,