Die Kunst, Recht zu behalten. Arthur Schopenhauer
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Arthur
Schopenhauer
Die Kunst,
Recht zu behalten
[Das fast fertige Manuskript fand sich ohne Überschriften in Schopenhauers Nachlaß. Es entstand vermutlich um 1830; der Text wurde unter verschiedenen Titeln wie »Dialektik«, »Eristische Dialektik« oder »Die Kunst, Recht zu behalten« veröffentlicht.]
© 2009 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hamburg
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Covergestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Titelabbildung: akg-images, Berlin
ISBN: 978-3-86820-973-0
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software Gmbh
Die wichtigsten Lebensdaten
Die wichtigsten Lebensdaten
1788 geboren in Danzig: die Familie Schopenhauer gehört zu den alteingesessenen Kaufmannsfamilie der Stadt.1793 verließen die Schopenhauers Danzig und lassen sich in Hamburg nieder, weil die Stadt an Preußen fiel und hierdurch ihre Selbstständigkeit verlor.
1803-1804 Schopenhauer unternimmt auf Anraten seines Vaters eine Bildungsreise durch Europa.
1807 Umzug nach Weimar zu seiner Mutter, die dort seit dem Tod ihres Mannes im Jahr 1805 als Schriftstellerin lebte.
1809 Studium der Medizin in Göttingen.
1811 Studium der Philosophie in Berlin.
1813 erwirbt er mit der Arbeit »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund« in Jena den Doktortitel im Fach Philosophie. Bekanntschaft mit Goethe, der zu dieser Zeit an seiner Farbenlehre arbeitete.
1816 Veröffentlichung einer eigenen Farbenlehre mit dem Titel »Über das Sehen und die Farben«.
1819 erscheint sein Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung«.
1820 Aufnahme der Lehrtätigkeit an der Berliner Universität, da er durch den Konkurs einer Danziger Bank sein ererbtes Vermögen verloren hatte, das ihn bisher finanziell unabhängig gemacht hatte. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit dem berühmten Philosophen Hegel.
1821 Nach Wiedererhalt seines Vermögens unternimmt er eine Italienreise.
1825 Erneuter Versuch in Berlin eine Universitätskarriere zu beginnen.
1831 Wegen einer Choleraepidemie Flucht aus Berlin nach Frankfurt am Main.
1836 erscheint »Über den Willen in der Natur«.
1839 erscheint »Über den Willen in der menschlichen Natur«.
1840 erscheint »Über die Fundamente der Moral«.
1851 erscheint »Parerga und Paralipomena«.
1860 in Frankfurt am Main verstorben.
Eristische
Dialektik
Eristische Dialektik1 ist die Kunst zu disputieren, und zwar so zu disputieren, daß man Recht behält, also per fas et nefas2 (mit Recht und mit Unrecht). Man kann nämlich in der Sache selbst objective Recht haben und doch in den Augen der Beisteher, ja bisweilen in seinen eignen, Unrecht behalten. Wann nämlich der Gegner meinen Beweis widerlegt, und dies als Widerlegung der Behauptung selbst gilt, für die es jedoch andre Beweise geben kann; in welchem Fall natürlich für den Gegner das Verhältnis umgekehrt ist: er behält Recht, bei objektivem Unrecht. Also die objektive Wahrheit eines Satzes und die Gültigkeit desselben in der Approbation der Streiter und Hörer sind zweierlei. (Auf letztere ist die Dialektik gerichtet.)
Woher kommt das? – Von der natürlichen Schlechtigkeit des menschlichen Geschlechts. Wäre diese nicht, wären wir von Grund aus ehrlich, so würden wir bei jeder Debatte bloß darauf ausgehn, die Wahrheit zu Tage zu fördern, ganz unbekümmert ob solche unsrer zuerst aufgestellten Meinung oder der des Andern gemäß ausfiele: dies würde gleichgültig, oder wenigstens ganz und gar Nebensache sein. Aber jetzt ist es Hauptsache. Die angeborne Eitelkeit, die besonders hinsichtlich der Verstandeskräfte reizbar ist, will nicht haben, daß was wir zuerst aufgestellt, sich als falsch und das des Gegners als Recht ergebe. Hienach hätte nun zwar bloß jeder sich zu bemühen, nicht anders als richtig zu urteilen: wozu er erst denken und nachher sprechen müßte. Aber zur angebornen Eitelkeit gesellt sich bei den Meisten Geschwätzigkeit und angeborne Unredlichkeit. Sie reden, ehe sie gedacht haben, und wenn sie auch hinterher merken, daß ihre Behauptung falsch ist und sie Unrecht haben; so soll es doch scheinen, als wäre es umgekehrt. Das Interesse für die Wahrheit, welches wohl meistens bei Aufstellung des vermeintlich wahren Satzes das einzige Motiv gewesen, weicht jetzt ganz dem Interesse der Eitelkeit: wahr soll falsch und falsch soll wahr scheinen.
Jedoch hat selbst diese Unredlichkeit, das Beharren bei einem Satz, der uns selbst schon falsch scheint, noch eine Entschuldigung: oft sind wir anfangs von der Wahrheit unsrer Behauptung fest überzeugt, aber das Argument des Gegners scheint jetzt sie umzustoßen; geben wir jetzt ihre Sache gleich auf, so finden wir oft hinterher, daß wir doch Recht haben: unser Beweis war falsch; aber es konnte für die Behauptung einen richtigen geben: das rettende Argument war uns nicht gleich beigefallen. Daher entsteht nun in uns die Maxime, selbst wann das Gegenargument richtig und schlagend scheint, doch noch dagegen anzukämpfen, im Glauben, daß dessen Richtigkeit selbst nur scheinbar sei, und uns während des Disputierens noch ein Argument, jenes umzustoßen, oder eines, unsre Wahrheit anderweitig zu bestätigen, einfallen werde: hiedurch werden wir zur Unredlichkeit im Disputieren beinahe genötigt, wenigstens leicht verführt. Diesergestalt unterstützen sich wechselseitig die Schwäche unsers Verstandes und die Verkehrtheit unsers Willens. Daraus kommt es, daß wer disputiert, in der Regel nicht für die Wahrheit, sondern für seinen Satz kämpft, wie pro ara et focis [für Heim und Herd], und per fas et nefas verfährt, ja wie gezeigt nicht anders kann.
Jeder also wird in der Regel wollen seine Behauptung durchsetzen, selbst wann sie ihm für den Augenblick falsch oder zweifelhaft scheint3. Die Hilfsmittel hiezu gibt einem jeden seine eigne Schlauheit und Schlechtigkeit einigermaßen an die Hand: dies lehrt die tägliche Erfahrung beim Disputieren; es hat also jeder seine natürliche Dialektik, so wie er seine natürliche Logik hat. Allein jene leitet ihn lange nicht so sicher als diese. Gegen logische Gesetze denken, oder schließen, wird so leicht keiner: falsche Urteile sind häufig, falsche Schlüsse höchst selten. Also Mangel an natürlicher Logik zeigt ein Mensch nicht leicht; hingegen wohl Mangel an natürlicher Dialektik: sie ist eine ungleich ausgeteilte