Die Kunst, Recht zu behalten. Arthur Schopenhauer
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Aristoteles bestimmt den Zweck der Dialektik nicht so scharf wie ich getan: er gibt zwar als Hauptzweck das Disputieren an, aber zugleich auch das Auffinden der Wahrheit (Topik, I, 2); später sagt er wieder: man behandle die Sätze philosophisch nach der Wahrheit, dialektisch nach dem Schein oder Beifall, Meinung Andrer (δóξα) (Topik, I, 12). Er ist sich der Unterscheidung und Trennung der objektiven Wahrheit eines Satzes von dem Geltendmachen desselben oder dem Erlangen der Approbation zwar bewußt; allein er hält sie nicht scharf genug auseinander, um der Dialektik bloß letzteres anzuweisen.5 Seinen Regeln zu letzterem Zweck sind daher oft welche zum ersteren eingemengt. Daher es mir scheint, daß er seine Aufgabe nicht rein gelöst hat.6 Aristoteles hat in den Topicis die Aufstellung der Dialektik mit seinem eignen wissenschaftlichen Geist äußerst methodisch und systematisch angegriffen, und dies verdient Bewunderung, wenn gleich der Zweck, der hier offenbar praktisch ist, nicht sonderlich erreicht worden. Nachdem er in den Analyticis die Begriffe, Urteile und Schlüsse der reinen Form nach betrachtet hatte, geht er nun zum Inhalt über, wobei er es eigentlich nur mit den Begriffen zu tun hat: denn in diesen liegt ja der Gehalt. Sätze und Schlüsse sind rein für sich bloße Form: die Begriffe sind ihr Gehalt.7 – Sein Gang ist folgender. Jede Disputation hat eine Thesis oder Problem (diese differieren bloß in der Form) und dann Sätze, die es zu lösen dienen sollen. Es handelt sich dabei immer um das Verhältnis von Begriffen zu einander. Dieser Verhältnisse sind zunächst vier. Man sucht nämlich von einem Begriff, entweder 1. seine Definition, oder 2. sein Genus, oder 3. sein Eigentümliches, wesentliches Merkmal, proprium, ἴδιον oder 4. sein accidens, d. i. irgend eine Eigenschaft, gleichviel ob Eigentümliches und Ausschließliches oder nicht, kurz ein Prädikat. Auf eins dieser Verhältnisse ist das Problem jeder Disputation zurückzuführen. Dies ist die Basis der ganzen Dialektik. In den acht Büchern derselben stellt er nun alle Verhältnisse, die Begriffe in jenen vier Rücksichten wechselseitig zu einander haben können, auf und gibt die Regeln für jedes mögliche Verhältnis; wie nämlich ein Begriff sich zum andern verhalten müsse, um dessen proprium, dessen accidens, dessen genus, dessen definitum oder Definition zu sein: welche Fehler bei der Aufstellung leicht gemacht werden, und jedesmal was man demnach zu beobachten habe, wenn man selbst ein solches Verhältnis aufstellt (κατασκευά ζειν), und was man, nachdem der andre es aufgestellt, tun könne, es umzustoßen (ανασκευά ζειν). Die Aufstellung jeder solchen Regel oder jedes solchen allgemeinen Verhältnisses jener Klassen-Begriffe zu einander nennt er τοπος, locus, und gibt 382 solcher τό ποι: daher Topica. Diesem fügt er noch einige allgemeine Regeln bei, über das Disputieren überhaupt, die jedoch lange nicht erschöpfend sind.
Der τό πος ist also kein rein materieller, bezieht sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand, oder Begriff; sondern er betrifft immer ein Verhältnis ganzer Klassen von Begriffen, welches unzähligen Begriffen gemein sein kann, sobald sie zu einander in einer der erwähnten vier Rücksichten betrachtet werden, welches bei jeder Disputation statt hat. Und diese vier Rücksichten haben wieder untergeordnete Klassen. Die Betrachtung ist hier also noch immer gewissermaßen formal, jedoch nicht so rein formal wie in der Logik, da sie sich mit dem Inhalt der Begriffe beschäftigt, aber auf eine formelle Weise, nämlich sie gibt an, wie der Inhalt des Begriffs A sich verhalten müsse zu dem des Begriffs B, damit dieser aufgestellt werden könne als dessen genus oder dessen proprium (Merkmal) oder dessen accidens oder dessen Definition oder nach den diesen untergeordneten Rubriken, von Gegenteil ἀ ντικέιμενον, Ursache und Wirkung, Eigenschaft und Mangel usw.: und um ein solches Verhältnis soll sich jede Disputation drehen. Die meisten Regeln, die er nun eben als τό ποι über diese Verhältnisse angibt, sind solche, die in der Natur der Begriffsverhältnisse liegen, deren jeder sich von selbst bewußt ist, und auf deren Befolgung vom Gegner er schon von selbst dringt, eben wie in der Logik, und die es leichter ist im speziellen Fall zu beobachten oder ihre Vernachlässigung zu bemerken, als sich des abstrakten τό πος darüber zu erinnern: daher eben der praktische Nutzen dieser Dialektik nicht groß ist. Er sagt fast lauter Dinge, die sich von selbst verstehn und auf deren Beachtung die gesunde Vernunft von selbst gerät. Beispiele: »Wenn von einem Dinge das genus behauptet wird, so muß ihm auch irgend eine species dieses genus zukommen; ist dies nicht, so ist die Behauptung falsch: z. B. es wird behauptet, die Seele habe Bewegung; so muß ihr irgend eine bestimmte Art der Bewegung eigen sein, Flug, Gang, Wachstum, Abnahme usw. – ist dies nicht, so hat sie auch keine Bewegung. – Also wem keine Spezies zukommt, dem auch nicht das genus: das ist der τό πος.« Dieser τό πος gilt zum Aufstellen und zum Umwerfen. Es ist der neunte τοπος. Und umgekehrt: wenn das Genus nicht zukommt, kommt auch keine Spezies zu: z. B. Einer soll (wird behauptet) von einem Andern schlecht geredet haben: – Beweisen wir, daß er gar nicht geredet hat, so ist auch jenes nicht: denn wo das genus nicht ist, kann die Spezies nicht sein.
Unter der Rubrik des Eigentümlichen, proprium, lautet der 215. locus so: »Erstlich zum Umstoßen: wenn der Gegner als Eigentümliches etwas angibt, das nur sinnlich wahrzunehmen ist, so ists schlecht angegeben: denn alles Sinnliche wird ungewiß, sobald es aus dem Bereich der Sinne hinaus kommt: z. B. er setzt als Eigentümliches der Sonne, sie sei das hellste Gestirn, das über die Erde zieht: – das taugt nicht: denn wenn die Sonne untergegangen, wissen wir nicht ob sie über die Erde zieht, weil sie dann außer dem Bereich der Sinne ist. – Zweitens zum Aufstellen: das Eigentümliche wird richtig angegeben, wenn ein solches aufgestellt wird, das nicht sinnlich erkannt wird, oder wenn sinnlich erkannt, doch notwendig vorhanden: z. B. als Eigentümliches der Oberfläche werde angegeben, daß sie zuerst gefärbt wird; so ist dies zwar ein sinnliches Merkmal, aber ein solches, das offenbar allezeit vorhanden, also richtig.« – Soviel um Ihnen einen Begriff von der Dialektik des Aristoteles zu geben. Sie scheint mir den Zweck nicht zu erreichen: ich habe es also anders versucht. Cicero’s Topica sind eine Nachahmung der Aristotelischen aus dem Gedächtnis: höchst seicht und elend; Cicero hat durchaus keinen deutlichen Begriff von dem, was ein topus ist und bezweckt, und so radotiert er ex ingenio [aus freier Erfindung] allerhand Zeug durcheinander, und staffiert es reichlich mit juristischen Beispielen aus. Eine seiner schlechtesten Schriften.
Um die Dialektik rein aufzustellen muß man, unbekümmert um die objektive Wahrheit (welche Sache der Logik ist), sie bloß betrachten als die Kunst, Recht zu behalten, welches freilich um so leichter sein wird, wenn man in der Sache selbst Recht hat. Aber die Dialektik als solche muß bloß lehren, wie man sich gegen Angriffe aller Art, besonders gegen unredliche verteidigt, und eben so wie man selbst angreifen kann, was der Andre behauptet, ohne sich selbst zu widersprechen und überhaupt ohne widerlegt zu werden. Man muß die Auffindung der objektiven Wahrheit rein trennen von der Kunst, seine Sätze als wahr geltend zu machen: jenes ist [Aufgabe] einer ganz andern πραγματέια [Betätigung], es ist das Werk der Urteilskraft, des Nachdenkens, der Erfahrung, und gibt es dazu keine eigne