Ekiden. Adharanand Finn
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Wir lassen unsere Fahrräder nahe des Ufers im Gras liegen. Es gibt keinen Grund, sie abzusperren. Dann gehen wir zum Startpunkt oben auf der Brücke.
Eigentlich ist es schade, dass wir hier oben an der Straße stehen und uns aufwärmen, wo es doch da unten am Fluss so viel Platz gibt. Aber das hier ist ihr Start, markiert durch eine Linie am Boden.
„Fünf Kilo“, sagt Ryohei zu mir und meint damit fünf Kilometer. Ich bin mir sicher, dass sie diese fünf Kilometer millimetergenau abgemessen haben. Auf jeden Fall dauert das Aufwärmen nicht lange. Ichi, ni, san, eins, zwei, drei … und los geht’s.
Sie sprinten los, als wäre dies ein 100-Meter-Rennen. Meine alten Beine brauchen einige Zeit, um auf Touren zu kommen. So zeitig am Morgen so schnell zu laufen, bereitet meinen um diese Zeit noch eingerosteten Sehnen einige Schmerzen. Ich muss erst einmal langsam beginnen, während die drei Burschen entlang des Flusses vorauslaufen. Sind die wirklich so schnell? Ich versuche, das Tempo zu erhöhen, um sie einzuholen.
Nach ein paar Minuten läuft mir der Erste von ihnen wieder entgegen. Er joggt gemütlich. Ryohei und sein anderer Freund kommen mir nun auch entgegen, doch viel gemächlicher als zuvor. Als ich wieder bei der Gruppe bin, gibt Ryohei erneut Gas. Wir erreichen eine Markierung am Weg, und beide drehen um. Wir laufen in moderatem Tempo zusammen zurück zum Startpunkt, wobei Ryohei immer wieder kurze Sprints hinlegt. Schließlich wird er langsamer, und sein Freund und ich geben Gas. Inzwischen bin ich aufgewärmt, und das Laufen fällt mir nun viel leichter, doch ich will ihnen nicht davonlaufen. Wir kehren wieder zum Ausgangspunkt an der Straße zurück, und alle stoppen ihre Zeit. Ryohei nimmt seine Maske ab, und zum ersten Mal sehe ich sein Gesicht. Er atmet schwer, doch er lächelt.
„Danke“, sagt er und verbeugt sich vor mir.
Alle drei sind nun viel gesprächiger. Ryoheis Freund, der Schnellere, spricht etwas Englisch. Ich frage ihn, warum er jeden Tag so früh aufsteht, um zu trainieren.
„Es ist mein Hobby“, sagt er.
Als wir uns auf unsere Fahrräder schwingen und nach Hause fahren, ist es noch nicht einmal halb sieben, doch das Training für den Tag ist erledigt. Zumindest bis zum nächsten Morgen, wenn ihr Hobby sie wieder früh aus dem Bett holen wird.
Auf dem Weg nach Hause unterhalten sich die drei, dabei fahren sie langsam, ihre Ellenbogen auf die Lenkstangen gestützt. Sie haben noch genügend Zeit, also kein Grund zur Eile. Bei jeder Ampel stoppen sie und warten geduldig auf Grün, selbst dann, wenn weit und breit kein Fahrzeug zu sehen oder hören ist.
Diese Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten, ist etwas, was ich in Japan oft bemerke. Selbst bei Teenagern scheint sich rebellisches Verhalten auf Kleidung und Frisuren zu beschränken.
Als ich eines schönen Tages in den örtlichen Zug einsteige, sitzen drei Teenager am Boden des Wagens. Sie tragen zerrissene Jeans und unterhalten sich lautstark miteinander. Das war wahrscheinlich das asozialste Verhalten, auf das ich während meiner Zeit in Japan stieß. Nicht, dass sie andere Fahrgäste belästigen, doch nach Monaten in Zügen, in denen es mucksmäuschenstill war, ist es schon ein kleiner Schock, drei Burschen auf dem Boden sitzen zu sehen, die sich laut miteinander unterhalten.
Als der Zug mit der Zeit immer voller wird, bemerke ich, wie die drei aufstehen, um Platz für die anderen Fahrgäste zu machen. Sie sprechen nun auch wesentlich leiser und benehmen sich ganz brav. Einer von ihnen setzt sich sogar eine Maske auf. Wahrscheinlich hat er eine leichte Verkühlung und will niemanden anstecken.
Natürlich gibt es in Japan auch Kriminalität, obwohl diese niedriger ist als in den meisten anderen Industrieländern, und auch die Teenager rebellieren, doch ich kann diese Bereitschaft zur Konformität deutlich spüren, dieses Sich-an-die-Regeln-Halten und Sich-in-die-Gesellschaft-Einfügen.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied in der Wahrnehmung des Platzes, den eine Person in der Gesellschaft einnimmt. Ein Sprichwort, das ich in Japan immer wieder höre, ist: Der Nagel, der hervorsteht, wird flachgehämmert. Für westliche Ohren mag sich das furchtbar anhören. Es bedeutet: Unterscheide dich nicht von den anderen, versuche nicht, etwas anderes zu tun, sondern behalte den Kopf unten und arbeite mit den anderen zusammen.
In ihrem Buch Understanding Japanese Society schreibt Joy Hendry darüber, wie dieses Konzept gesellschaftlicher Harmonie und Kooperation japanischen Kindern schon im frühesten Alter eingeimpft wird. So sagt sie, dass die alljährlichen Sporttage in dem Kindergarten, in dem sie arbeitete, vor allem dazu da seien, Teamwork über individuelle Konkurrenz zu stellen. Sie sagt, dass Tauziehen und drei-, fünf- oder siebenbeinige Rennen typische Disziplinen seien, in denen Zusammenarbeit unerlässlich ist, um Erfolg zu haben. Sie erwähnt auch, dass Fernsehsendungen für Kinder oft das Thema Kooperation wiederholen, indem zum Beispiel der Held daran scheitert, wenn er ein Monster oder eine außerirdische Macht allein besiegen will, und zwar so lange, bis ihm andere, die ebenfalls dieser Gefahr ausgesetzt sind, zu Hilfe kommen.
Unter Erwachsenen gibt es mehr Aktivitäten, die in geordneten Gruppen ausgeführt werden, als ich es aus Großbritannien gewohnt bin. Egal, wohin man geht – meist bei Touristenattraktionen, aber auch in unscheinbaren Vororten –, überall kann man geordnete Gruppen von Leuten sehen, die von Personen mit Fähnchen herumgeführt werden. Oft tragen sie auch gleiche Jacken und Hüte.
Diese konformistische Ader erklärt vielleicht bis zu einem gewissen Grad, warum der Ekiden in Japan so populär ist und warum gerade der Langstreckenlauf, eine typische Einzelsportart, in einen Mannschaftssport umgewandelt wurde.
Viele der besten Ekiden-Teams in Japan wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, als Teil des Wiederaufbaus. Wettbewerbe wurden als Möglichkeit gesehen, die Leute zusammenzubringen und die Moral und den Gemeinschaftsgeist des Volks nach den Schrecken des Kriegs wieder zu stärken. In dieser Zeit wurden auch viele der bekanntesten Marathonbewerbe des Landes ins Leben gerufen, etwa der Biwa-See Marathon (erstmals 1946) und der von Fukuoka (1947), sowie viele der wichtigsten Ekiden-Rennen, die anfangs nur als Training für Marathons gedacht waren.
Die größten Wettbewerbe wurden von Zeitungen gesponsert – und die meisten davon werden es noch immer –, damit die Menschen über die Teams und Läufer lesen und die Ergebnisse mitverfolgen konnten. Das half sehr dabei, die Popularität unter der Bevölkerung zu steigern. Und je stärker die japanische Wirtschaft in der Nachkriegszeit wuchs, umso mehr Geld begannen Firmen in ihre Teams zu stecken, indem sie die besten Athleten an den Universitäten verpflichteten und ihnen sogar zusätzlich Trainingszeit während der Arbeit gewährten.
Dieses starke Engagement im Langstreckenlauf begann sich bald zu rechnen, und in den 1960er-Jahren, als Japan zu einer weltweiten Wirtschaftsgroßmacht heranwuchs, dominierten japanische Läufer den Marathon so, wie es die Kenianer und Äthiopier heute tun. 1965 wurden zehn der elf schnellsten Zeiten von japanischen Männern gehalten. 1966 waren 15 Japaner unter den 17 Besten.
Eine vielbewunderte Eigenschaft der japanischen Gesellschaft war damals ein Konzept namens Wa, Gruppenharmonie. Ein ganz besonderer Verfechter dieser Idee war der Coach des wohl berühmtesten japanischen Baseballteams, der Yomiuri Giants, die von 1965 bis 1973 neunmal in Folge die nationalen Meisterschaften gewannen. Baseball ist in Japan sogar noch um einiges populärer als Ekiden, und laut William W. Kelly, Professor für Anthropologie und Japanologie an der Yale University,