Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online. Jürg Häusermann
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Der Zauber liegt in Ihrer rechten Hand: Nehmen Sie Ihren rechten Unterarm nach vorne, waagrecht, machen eine Art O – und jetzt kommt’s: Sie – takten – Ihre – Botschaft!36
Und die Gruppe tut, wie ihr gesagt wurde: Die Leute heben den Arm und sprechen den vorgegebenen Satz. Jede Phrase begleiten sie mit einem Schlag des Arms, lassen eine kurze Pause folgen, dann die nächste Phrase mit der gleichen
Geste und so weiter. Auf diese Weise übernehmen die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer angeblich die Überzeugungskraft großer Redner. Denn: „Menschen, die bis zu tausend Prozent überzeugt sind von dem, was sie sagen, die machen Folgendes: Die dehnen die Botschaft rhythmisch auseinander.“ Der Trainer verspricht: „Wenn Sie dieses Verhalten erkennen und auf egal welche Botschaft übertragen, dann erreichen Sie dieselbe Glaubhaftigkeit und dieselbe Schubkraft!“
Dieser Unsinn kann auf YouTube bewundert werden. Er kam dort bisher auf knapp 900.000 Aufrufe.37 Was da nicht gesagt wird: dass diese Art des Redens lächerlich wirkt, wenn sie der eigenen Persönlichkeit widerspricht. Und die Frage, die nicht beantwortet wird: ob es denn erstrebenswert ist, dass jede beliebige Botschaft ungeahnte „Glaubhaftigkeit und Schubkraft“ erfährt.
Mitdenken statt Eintrichtern
Wer von einem Publikum träumt, das sich auf diese Weise beeinflussen lässt, träumt von einer Schafherde. Es ist das Publikum aus grauer Vorzeit, als man die Zuhörer mit Befehlsempfängern verwechselte. Oder den Worten des großen Trainers: „Arbeit im Hirn des Zuhörers ist Widerstand … Widerstand gegen Sie und Ihr Anliegen.“ Aber Widerstand bricht man nicht mit aufgesetzten Verhaltensweisen.
Führen Sie / in Ihrer Verwaltung / Lean Management ein; / fünfzig Prozent / Ihrer Konflikte / sind verschwunden.
Das sind sechs Phrasen, sechs Betonungen, dazwischen fünf Pausen. Dazu sagt die konstruktive Rhetorik: Vergiss solche Regeln, die von jedem Kontext losgelöst sind. Erzähle stattdessen ruhig, was Lean Management ist – aus deiner Kompetenz heraus und verständlich. Und wenn du zur Empfehlung kommst, dies auch einzuführen, wird es automatisch passend klingen. Denn alle haben mitgedacht und brauchen keine künstlichen Gesten und Betonungen.
Wenn Zuhören wirklich Widerstand wäre, würde jeder Auftritt zum Kampf, und nicht mal dann wären die wirksamsten Waffen solche plakativen Werkzeuge aus der Mottenkiste des Laienschauspielers. Vielleicht funktionieren sie noch für Politikerinnen und Politiker, die ihre Wahlkampfreden halten, bei denen sowieso nur ihre eigenen Schäfchen zuhören. Wer aber in erster Linie informieren will und seine Zuhörerinnen und Zuhörer nicht als Gegner sieht, sondern als mitdenkende Individuen, wird auf derartige Mätzchen verzichten und sich sagen: Es geht mir nicht darum, den Leuten „egal welche Botschaft“ einzutrichtern, sondern darum, meine Inhalte verständlich und attraktiv einem intelligenten Publikum mitzuteilen, das bereit ist, zuzuhören, mitzudenken und das Gesagte auch kritisch zu hinterfragen.
Wer dazu bereit ist, kann die klassischen Anleitungen zum Monolog vergessen. Wer dazu bereit ist, wird mehr erreichen und es auch leichter haben, wenn er die Redeaufgabe als Dialog versteht.
Das Publikum ernst nehmen
Wie sieht denn die Alternative aus? Der erste Tipp für einen erfolgreichen Vortrag, bei dem das Publikum mitgeht, lautet: Nimm die Leute wahr, die dir zuhören sollen! Nimm sie ernst. Nimm dir deshalb Zeit, sie anzusehen, bevor du sprichst. Und statt deine Phrasen zu skandieren, sprich sie so aus, dass man mitdenken kann. Das ist das Gegenteil von Eintrichtern, das Gegenteil des „Auseinanderdehnens“ einer auswendig gelernten Botschaft. Es ist die Koordination von Denken und Sprechen. Da besteht ein Satz nicht aus sechs betonten Phrasen, sondern nur das, was im Satz neu ist, erhält die Hauptbetonung; der Rest unterstützt es, weil sich Melodie und Rhythmus dem unterordnen. Und den Unterarm kann man getrost vergessen.
Konstruktive Rhetorik verrät nicht faule Tricks, sondern fördert das Verständnis für den Austausch: Entwickle deine Gedanken so, dass die Leute mitdenken können. Das gelingt dir, wenn du mit ihnen in Kontakt bist. Die Voraussetzung dazu:
»Nimm das Publikum wahr.
»Formuliere die Gedanken frei anhand von Stichworten, so dass du während des Redens auch selber mitdenkst.
»Nutze Pausen – nicht weil sie magische Kräfte haben, sondern weil du in den Pausen siehst, wie das Gesagte ankommt und erkennst, was vom Publikum zurückkommt.
Informationen bringen mehr als Überredungskünste
Klassische Rhetoriktrainings gehen vom Monolog aus, vom Reden gegen andere. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Überzeugungsrede. Eine Sache wird vertreten und muss gegen andere verteidigt werden. Das ist natürlich in vielen Reden enthalten, aber meistens nicht das Hauptziel – weder in Vorträgen oder Vorlesungen noch in Instruktionsvideos, Berichten oder Reportagen. Hier geht es primär darum, Leuten, die etwas Neues erfahren wollen, dieses neue Wissen zu vermitteln und sie anzuleiten, wie sie es weiter vertiefen können. In vielen Fällen ist dies auch die Haupttätigkeit von Verkäufern, Journalistinnen oder Unternehmenssprechern. Es ist nicht ein Reden gegen andere, sondern ein Reden für andere und mit anderen. Auch wenn die Zuhörer eine Stunde lang stumm bleiben, können sie aktiviert werden, denn sie wollen lernen, unterhalten werden, selbst weiterdenken. Eine konstruktive, dialogische Einstellung nimmt diese Bereitschaft zur Mitarbeit auf.
Gespräch – Vortrag – Online-Präsentation: Drei Beispiele
Welches sind die Stärken des Dialogs und welche davon können in die Präsentation – vor Publikum oder online – übernommen werden? Das ist leicht zu erkennen, wenn man eine Person bei den verschiedenen Aufgaben beobachtet: beim Gespräch, beim Vortrag und bei der Online-Präsentation.
Da ist die erfolgreiche Unternehmensberaterin Olivia Grau.38 Sie hat Managerinnen namhafter Firmen betreut und Weltklassesportler zum Erfolg geführt. Ihre Stärke ist die Motivation einzelner Menschen im persönlichen Kontakt. Wer sie zum privaten Gespräch trifft, erkennt ihre besondere Ausstrahlung, sie wirkt sympathisch und zugewandt. Wer sie im Vortrag hört, spürt bereits eine gewisse Distanz. Und in der Online-Präsentation in ihren Videos hat sie fast alle ihre sympathischen Züge verloren. Die folgenden Abschnitte beschreiben diese Unterschiede und zeigen, wo die Stärken liegen, auf denen sie auch im Vortrag aufbauen kann.
1. Das konstruktive Gespräch
Olivias Stärken werden in der persönlichen Begegnung mit ihren Kunden offenbar. Sie lässt sie erzählen, stellt Fragen, ergänzt das Gehörte mit ihren eigenen Erfahrungen und leitet daraus die Ratschläge für Praxis und Training ab. Dogmen und Regeln stehen nicht am Anfang, sondern folgen