Völkerrecht. Bernhard Kempen
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3. Die de minimis-Schwelle (Offenkundigkeit)
Da Rechtsfragen der Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt stets politisch hochsensibel und oftmals nicht zweifelsfrei einzuordnen sind, sollte nicht jede völkerrechtswidrige Gewaltanwendung zugleich schon ein Aggressionsverbrechen darstellen. Art. 8 bis Abs. 1 führt deshalb zusätzlich eine sog. Schwellenklausel („threshold clause“) ein: Ein völkerrechtswidriger Akt der Aggression ist im Rahmen des IStGH-Statuts nur strafbar, wenn die Gewaltanwendung aufgrund ihres Charakters, ihrer Schwere und ihres Ausmaßes eine offenkundige („manifest“), also objektiv evidente Verletzung der UN-Charta darstellt. Diese sog. de minimis-Schwelle soll für die Zwecke des IStGH-Statuts die strafrechtliche Relevanz von Aggressionsakten unterhalb einer noch unbestimmten Bagatellschwelle (z. B. vereinzelte Grenzscharmützel, sporadische Gewaltakte) verneinen.
Was könnte z. B. den Charakter der Gewaltanwendung ausmachen? Das Element ist zumindest geeignet, auch die Zwecke der Gewaltanwendung mit zu bewerten: Diente die grenzüberschreitende Waffengewalt z. B. dazu, in einem anderen Staat Völkermord oder andere systematisch durchgeführte internationale Verbrechen (z. B. durch eine → humanitäre Intervention) zu verhindern, könnte man zu der Überzeugung gelangen, dies sei im Lichte der Ziele und Aufgaben der Vereinten Nationen ihrem Charakter nach keine offenkundige und somit strafrechtsrelevante Verletzung der Charta; ebenso könnte dies bei einer unmittelbaren Bedrohung durch einen anderen Staat gesehen werden (unter den Stichworten Präemption und Prävention diskutiert). Die zwischen den Vertragsstaaten auch in Kampala verabschiedeten „understandings“ bestätigen ebenso wie schon der Wortlaut der Regelung („und“), dass die Aggression im Lichte aller drei Komponenten eine offenkundige Charta-Verletzung darstellen muss. Die Elemente der Schwellenklausel müssen also kumulativ vorliegen. Eine offenkundige UN-Charta-Verletzung und damit die mögliche Strafbarkeit für einen aggressiven Staatenakt ist folglich bereits dann nicht mehr gegeben, wenn eine beachtliche wissenschaftliche Minderheit Rechtfertigungsgründe für ihn vorträgt. Die Schwellenklausel enthält damit erhebliche Interpretationsspielräume, die zu einer großen Ungenauigkeit führen; auch dies ist ein Umstand, der dem Erfordernis des strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes nicht entspricht.
4. Beschränkung auf Führungspersonal
Art. 8 bis Abs. 1 beschränkt den Täterkreis des „Führungsverbrechens“ der Aggression auf Täter, die eine effektive Kontrolle oder die Leitung über die politischen oder militärischen Handlungen eines Staates ausüben („leadership clause“). Dies beantwortet aber noch nicht exakt die Frage, wer diesem Führungskreis als „intraneus“ zuzuordnen ist und wie mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit einer Person außerhalb dieses Kreises („extraneus“) umzugehen ist. Zum Täterkreis gehört nach Art. 8 bis Abs. 1 nur, wer die effektive Kontrolle oder die Leitung über die politischen oder militärischen Aktivitäten eines Staates ausübt. Im Hinblick auf die Strafbarkeit des Aggressionsverbrechens kommt es insofern nicht auf den formalen Status einer Person, sondern darauf an, ob sie effektive Kontrolle über aggressive Politik tatsächlich ausübt. Der Täterkreis kann also im Einzelfall auch wirtschaftliche, paramilitärische, religiöse oder politische Führer ohne Regierungsamt umfassen.
5. Versuch und Vorbereitungshandlungen
Art. 8 bis kriminalisiert die Planung, Vorbereitung, Einleitung und Durchführung eines staatlichen Aggressionsaktes. Soweit die Planung und Vorbereitung eines Aggressionsaktes als strafbare Handlungen normiert werden, ist dies schon grundsätzlich problematisch, weil das Schadensprinzip und die Rechtsgutlehre zur Rechtfertigung einer strafrechtlichen Sanktion für ein Verhalten die tatsächliche Schadensverursachung bzw. Verletzung des geschützten Rechtsguts fordern, die bloße Schaffung von Risiken oder Gefahren für Rechtsgüter aber in der Regel nicht ausreichen lässt. Im Ergebnis muss also der staatliche Aggressionsakt zumindest eingeleitet („initiation“) worden sein, also das Versuchsstadium erreicht haben, um eine Strafbarkeit auch einer Vorbereitungshandlung begründen zu können. Dies wird durch die ebenfalls in Kampala verabschiedeten „elements of crimes“ bestätigt, die die Durchführung des Aggressionsaktes ausdrücklich verlangen („The act of aggression – the use of armed force by a State against the sovereignty […] – was commited“; vgl. Res. 6 Annex II „Elements“, 3.). Eine der in Art. 8 bis Abs. 1 enthaltenen individuellen Tathandlungen kann also eigentlich nur dann strafrechtlich relevant werden, wenn eine qualifizierte („character, gravity and scale“) staatliche Aggressionshandlung bereits stattgefunden hat. Da außerdem die allgemeinen Regeln zur Strafbarkeit des Versuchs nach Art. 25 Abs. 3 lit. f gelten, fragt sich, ob die Strafbarkeit von Versuchs- und Vorbereitungshandlungen zwar normiert wurde, im Ergebnis aber wohl ohne praktische Relevanz bleiben wird, weil ohne die Durchführung eines Aggressionsaktes die folgenlosen Versuchs- und Vorbereitungshandlungen praktisch gar nicht bestraft werden können, da es insoweit an einem wesentlichen „element of crime“ fehlt.
6. Beteiligung
Zur Bestimmung möglicher Beteiligungsformen beim Verbrechen der Aggression ist entscheidend, wie weit man die Führungseigenschaft in die in Art. 25 Abs. 3 geregelten Beteiligungsformen hineinreichen lässt. Aus rechtssystematischen Gründen soll zwar der gesamte allgemeine Teil des IStGH-Statuts auch für das Verbrechen der Aggression gelten. Der Effekt dieses Ansatzes wird allerdings durch die Einfügung des neuen Art. 25 Abs. 3 bis praktisch auf Null reduziert, da danach für das Verbrechen der Aggression bestimmt wird, dass die übrigen Bestimmungen des Art. 25 nur auf solche Personen anwendbar sind, die eine effektive Kontrolle oder die Leitung über die politischen oder militärischen Handlungen eines Staates ausüben, so dass alle „extranei“ von der Strafbarkeit ausgenommen werden. Die Konsequenz der umfassenden Straflosigkeit aller, die nicht dem unmittelbaren Führungszirkel eines aggressiven Staates angehören, ist bei Vorliegen eines Aggressionsverbrechens durchaus fragwürdig.
IV. Innere Tatseite
Hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen gelten die allgemeinen Regeln des Art. 30. Überlegungen zur möglichen Einführung einer besonderen „Aggressionsabsicht“ haben sich nicht durchgesetzt. Der Täter muss also z. B. hinsichtlich des Umstandes „Führungseigenschaft“ das Bewusstsein für seine tatsächliche Position effektiver Kontrolle und Lenkung der aggressiven Handlungen seines Staates besitzen; ferner muss die Person sich über die staatliche Aggressionshandlung und ihren verbrecherischen Charakter im Klaren sein. Hierzu reicht aber wie bei den anderen Völkerrechtsverbrechen das Bewusstsein der tatsächlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit – Rechtskenntnisse oder gar eine zutreffende rechtliche Bewertung sind nicht erforderlich.