Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser

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Kaukasische Sinfonie - Werner Ryser

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die Reihen der Infanteristen. Ich kannte ihn, denn ich behandelte seine Mutter. Er hiess Anatolij Michajlowitsch Maximow und diente als Major in der Armee. «Geht nach Hause, der Zar will euch nicht empfangen!», schrie er. «Wer dem Befehl nicht Folge leistet, muss damit rechnen, erschossen zu werden.» Der Offizier trat zur Seite. «Legt an!», befahl er.

      Die Soldaten aus der ersten Reihe richteten ihre Gewehre auf die Demonstranten. Dann durchschnitt das Kommando: «Feuer!» die Stille. Die Soldaten schossen über die Köpfe der Leute. Man hörte Angstschreie, Mütter zogen ihre weinenden Kinder an sich.

      «Das war die letzte Warnung. Das nächste Mal gibt es Tote. Geht nach Hause!», rief Maximow. Er gab den Befehl vorzurücken. Die Infanteristen standen jetzt nur noch fünf Meter vor der ersten Reihe der Arbeiter und richteten die aufgepflanzten Bajonette gegen sie.

      Ich drängte mich dem Brückengeländer entlang vorwärts zu Anatolij Michajlowitsch. Er erkannte mich. «Was machen Sie denn hier, Herr Doktor? Sie gehören doch nicht zu den Aufrührern?» Er sprach Deutsch.

      «Natürlich nicht. Ich und mein Bruder waren auf dem Heimweg, und es scheint, dass wir hier auf der Brücke zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Hätten Sie die Freundlichkeit, uns durchzulassen?»

      «Selbstverständlich, aber beeilen Sie sich.»

      Ich winkte Jakob. Er kam. Jelisaweta folgte ihm.

      «Wer ist die Frau?», fragte Maximow scharf.

      «Sie ist meine Magd», antwortete Jakob geistesgegenwärtig. «Ich reise noch heute nach Moskau, und sie muss meine Sachen packen.»

      Durchschaute der Offizier die Lüge? Er liess es sich nicht anmerken. Er gab einen knappen Befehl. Einige Soldaten rückten beiseite. Wir schlüpften durch die Gasse. Dann blieben wir stehen und sahen zu, wie die Menge zurückwich. Nach zehn Minuten war die Brücke bis auf Maximows Infanterieeinheit menschenleer.

      Als wir am Südufer Richtung Zentrum gingen, sahen wir, dass Hunderte von Männern, Frauen und Kindern den vereisten Strom überschritten. Offenbar gaben sie ihr Vorhaben, um vierzehn Uhr auf dem Schlossplatz zu sein, nicht auf.

      Wir bogen nach links in eine Nebenstrasse ein, die uns zur Mojka führte. Jelisaweta, die bisher geschwiegen hatte, fragte: «Weshalb tun sie das?»

      «Was meint Ihr?»

      «Weshalb wollen uns die Soldaten nicht zu Väterchen Zar lassen?»

      Väterchen Zar! Ich habe nie begriffen, weshalb die Russen für ihre Unterdrücker das Diminutiv verwenden. «Ihr habt gehört, wie der Offizier gesagt hat, dass er euch nicht empfangen will.»

      «Das glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass er weiss, dass seine Soldaten drohen, auf uns, seine Kinder, zu schiessen.»

      Ich wechselte einen Blick mit Jakob. Er zuckte mit den Schultern. «Habt Ihr immer noch vor, zum Winterpalast zu gehen?»

      «Gewiss, ich will dabei sein, wenn Pater Gapon Zar Nikolaj unsere Bitten vorträgt.»

      «Wir begleiten Euch dorthin», mischte sich Jakob ins Gespräch, und zu mir auf Berndeutsch: «Dieses Schauspiel möchte ich mir nicht entgehen lassen.»

      Was zu diesem Zeitpunkt weder Jelisaweta Iwanowna noch wir wissen konnten: Der Priester würde den Schlossplatz nicht erreichen. Die Prozession, die er vom Südwesten der Stadt Richtung Winterpalast führte, war beim Narva-Triumphbogen von Truppen aufgehalten worden. Anders als jene, welche über die Dreifaltigkeitsbrücke ins Zentrum gelangen wollten, hatte Gapons Prozession, als zwei Salven in die Luft abgegeben worden waren, die Warnung ignoriert. «Freiheit oder Tod», hatte der Priester gerufen, und die Leute waren mit ihm weiter vorwärtsmarschiert. Darauf zielten die Soldaten auf Körperhöhe. Dreimal schossen sie. Tote und Verwundete lagen auf dem Narva-Platz. Gefährten brachten Giorgij Gapon in Sicherheit. Er war verzweifelt. «Es gibt keinen Gott mehr», soll er gesagt haben. Und: «Es gibt keinen Zaren.» Immer wieder diese zwei Sätze.

      Wir hatten inzwischen den Winterpalast erreicht. Jakob und ich blieben beim Gebäude des Gardekorps stehen. Von hier aus überschauten wir den weiten Platz. Im Hintergrund glänzte die vergoldete Spitze der Admiralität. Mir erschien sie wie ein mahnender Zeigefinger. Aber vielleicht bilde ich mir das auch erst nachträglich ein. Die Leute hatten sich vor der Alexandersäule aufgestellt. Jelisaweta gesellte sich zu den Tausenden von Männern, Frauen und Kindern, die es, den Sperrungen durch die Truppen zum Trotz, geschafft hatten, über die Newa oder durch die vielen engen Gassen bis zum Winterpalast vorzudringen. Wir sahen ihr nach: eine kleine, schmächtige Gestalt, die sich, die Ikone des heiligen Nikolaus an ihre Brust gepresst, den Weg durch die Menge bahnte, um vorne mit dabei zu sein, wenn die Bittschrift dem Zaren überreicht werden sollte.

      Die Leute warteten. Als es von der nahen Isaaks-Kathedrale zwei Uhr schlug, wurde es still. Die Menschen starrten auf die Fassade des Winterpalastes, die grün, weiss und golden in spätbarocker Pracht prunkte. Sie warteten vergeblich auf Pater Gapon mit seiner Bittschrift. Und auch der Zar zeigte sich nicht auf dem Balkon über dem Hauptportal, um, wie erhofft, seine Kinder zu begrüssen.

      Stattdessen marschierte eine Gardeeinheit auf. Über ihren Uniformen trugen die Männer lange Wintermäntel. Sie nahmen in zwei Reihen Aufstellung. Ein Hornsignal ertönte. «Erste Warnung», sagte ich zu Jakob, der mich am Oberarm gepackt hatte. Die Arbeiter starrten ungläubig auf die Soldaten, die ihre Gewehre anlegten. Das Horn schallte zum zweiten Mal über den Schlossplatz. «Zweite Warnung», flüsterte ich. Viele in der zerlumpten Menge bekreuzigten sich. Manche sanken auf die Knie, falteten die Hände. Ich suchte Jelisaweta Iwanowna. Noch immer hielt sie die Ikone mit Sankt Nikolaus gegen ihre Brust gepresst. Auf ein Zeichen des kommandierenden Offiziers blies der Hornist zum dritten Mal. Eine Salve krachte. Getroffene Demonstranten wälzten sich schreiend im Schnee. Panik brach aus. Die Leute flohen, rannten um ihr Leben, suchten Schutz unter dem Triumphbogen des Generalstabsgebäudes, flohen durch die Grünanlagen zur Newa – und noch immer schoss die Garde, lud ihre Gewehre nach, schoss weiter.

      Als die Soldaten das Feuer endlich eingestellt hatten, wagte ich es nach einer Weile quer über den Platz zu gehen, dorthin, wo ich zuletzt Jelisaweta gesehen hatte. Jakob folgte mir. Jetzt war nichts anderes mehr zu hören als die Schreie, die Klagen und das Stöhnen der Verwundeten. Und das Weinen und die Rufe der Überlebenden, die nach ihren Angehörigen und Freunden suchten.

      In einem der vielen Tagebücher, die mein Grossvater hinterlassen und die mir meine Mutter zum Lesen gegeben hatte, war auch eine Schilderung der Schlacht von Achalziche im Jahr 1828. Er hatte als junger Leutnant daran teilgenommen. Jetzt, am Fuss der Alexandersäule, von der ein eherner Engel, der ein riesiges Kreuz trug, auf den weiten Schlossplatz hinunterschaute, konnte ich das Entsetzen nachvollziehen, das aus seinen Zeilen sprach. Ich sah Kinder, nicht älter als acht oder neun Jahre, die nach ihren Eltern riefen, während die sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmten. Ich sah Männer und Frauen, welche beide Hände gegen ihren Leib pressten, als könnten sie das Blut, das zwischen ihren Fingern hervorquoll, zurückhalten. Ich sah eine junge Mutter. Sie war tot, aber an ihrer Brust weinte ein Säugling, als wüsste er, dass man ihn zur Waise gemacht hatte. Ich sah zahllose Leichen: Männer, Frauen, Kinder. Sie lagen kreuz und quer im Schnee, der sich rot verfärbt hatte. In grotesken Verrenkungen lagen sie da: auf dem Rücken, auf dem Bauch, übereinander.

      Und endlich sah ich Jelisaweta. Sie sass am Boden, gegen das Podest der Alexandersäule gelehnt. Ihr Kopf neigte sich zur Seite. Ihre erloschenen Augen starrten hinauf zum Balkon über dem Hauptportal, als könne sie selbst im Tod nicht fassen, was Väterchen Zar seinen Kindern angetan hatte.

      Die Ikone des heiligen Nikolaus lag neben ihr am Boden. Ich beugte mich zu

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