Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser

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Kaukasische Sinfonie - Werner Ryser

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auf. Ich habe sie noch immer. Sie hängt jetzt in meiner Wohnung. Die Soldaten des Zaren hatten nicht einmal den Namenspatron ihres Monarchen verschont. Die Brust des Heiligen aus Myra ist von einer Kugel durchbohrt, wohl derselben, die Jelisaweta getötet hat. Jelisaweta Iwanowna, fünfundzwanzig Jahre alt, die mit fünfzehn ihr erstes Kind geboren, die mit ihrer Familie in erbärmlichen Verhältnissen gelebt, gehungert und gefroren hatte, die von ihrem Mann, wenn er betrunken nach Hause kam, verprügelt worden war und die gehofft hatte, Pater Giorgijs Bitten würden Nikolaj II. erweichen … Nikolaj, dieses mässig begabte Subjekt, in dem der Hochmut und die Grausamkeit von dreihundert Jahren jener aus dem Haus Romanow zu Fleisch geworden war. Nikolaj, der wie seine Vorfahren durchdrungen war vom Wahn, Gott habe ihn persönlich dazu berufen, als absoluter Monarch über einen Sechstel des Erdkreises zu herrschen. Dieser Nikolaj hatte seine Bluthunde losgelassen, um Kinder, Frauen und Männer, die nichts anderes wollten, als ihn um die Verbesserung ihrer elenden Lebensbedingungen zu bitten, abschlachten zu lassen. Und während seine Garde wütete, hatte er den Tag, wie man später erfuhr, mit seiner Familie ausserhalb der Stadt, im Katharinenpalast von Zarskoje Selo, verbracht. Jener 9. Januar 1905 forderte Hunderte von Toten und noch mehr Verwundete. Die genaue Zahl wurde nie bekannt. Weshalb auch? Es waren ja nur Arbeiter, Proletenpack, das gegen sein Schicksal aufbegehrt hatte. Nein, ich finde keine Worte, die stark genug wären, Nikolaj Romanow, diesen Massenmörder, zu verfluchen.

      Als ich mich aufrichtete, stand Jakob hinter mir. Er war blass. Seine Wangen waren tränenüberströmt. Zwei- oder dreimal öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, brachte aber nicht mehr als ein krampfhaftes Schluchzen über seine Lippen. Er warf sich mir an den Hals, legte seinen Kopf an meine Schultern. So blieben wir lange stehen. Endlich hatte er sich ausgeweint. Ich nahm ihn am Arm und führte ihn von diesem Platz des Grauens weg. Manchmal blieb er stehen, betrachtete die Leiche eines Kindes, als wolle er sich den Anblick in die Seele einbrennen. Behutsam schob ich ihn weiter. Zuhause half ich ihm, seine Koffer zu packen. Dann begleitete ich ihn zum Nikolaj-Bahnhof, wo der Zug nach Moskau bereits wartete. Wir sprachen nicht viel. Jeder von uns war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Aber als er sich aus dem Abteilfenster herauslehnte, sagte er: «Du solltest nicht in dieser Stadt bleiben. Sie ist verflucht. Komm zurück zu uns nach Grusinien.»

      Eine verfluchte Stadt? In den folgenden Wochen dachte ich oft über Jakobs Bemerkung nach. Manchmal spazierte ich vom Haus der Generalin zum Senatsplatz und betrachtete den Ehernen Reiter. Auf einer gigantischen Welle aus Granit zügelt, lorbeerbekränzt, Peter I., den die Geschichtsschreibung den Grossen nennt, sein sich aufbäumendes Pferd.

      Ich versuchte, mir vorzustellen, wie der Zar, dieser über zwei Meter lange Mensch, hoch zu Ross, zusammen mit seinen Höflingen das sumpfige Gelände des Mündungsgebiets der Newa durchstreifte, irgendwann anhielt und mit grosser Geste über den Strom und die vielen Inseln zeigte und verkündete: «Hier soll meine neue Hauptstadt entstehen, grösser und schöner als alles, was wir kennen. Ich will es.»

      Im Geschichtsunterricht im Adelsgymnasium von Tiflis hatte man uns beigebracht, dass es dem Kaiser darum gegangen sei, für das russische Reich das Tor zur Welt weit aufzustossen, ihm den Zugang zum Meer zu öffnen, genau hier, wo sich die Newa in die Ostsee ergiesst. Und so legte er am 16. Mai 1703 auf der strategisch günstig gelegenen Haseninsel den Grundstein zur Peter-und-Paul-Festung und damit zu Sankt Petersburg. Man verschwieg uns, dass das Fundament der Stadt von achtzigtausend Sträflingen, Bauern und Kriegsgefangenen gelegt worden war. Achtzigtausend Verdammte, die unter den Peitschenhieben ihrer Aufseher ganze Wälder abholzten. Sie mussten Pfähle herstellen und sie in den sumpfigen Boden rammen, damit auf ihnen jene Paläste und Kirchen erbaut werden konnten, die später vom Glanz und der Glorie der Romanows zeugten. Was scherte es den Zaren, dass die Zwangsarbeiter dabei zu Tausenden verreckten: in den Hochwassern der Newa ertranken, in den bitterkalten Wintern in ihrer dürftigen Kleidung erfroren und verhungerten. Zweifellos verfluchen die Schatten der Unglücklichen die Stadt, die auf ihren Leichen erbaut worden ist.

      Der Petersburger Blutsonntag hatte wie ein Fanal gewirkt. Das ganze Land befand sich danach in Aufruhr. Nach der Niederlage der russischen Armee im fernen Osten gegen die vom Zaren als Makaken verhöhnten Japaner war das Ansehen von Nikolaj II. auf einen Tiefpunkt gesunken. Truppen meuterten, die Arbeiter in den Fabriken streikten, Bauern verwüsteten Gutshöfe und verjagten deren Besitzer. Die Regierung des Zaren reagierte mit gnadenloser Härte. Täglich wurden Aufständische hingerichtet oder in die Verbannung geschickt.

      Im Spätsommer erreichte mich ein Brief Jakobs. Er schrieb mir, Doktor Erchinger, der seit über fünfzig Jahren Arzt in Katharinenfeld gewesen war, sei gestorben. Man suche dringend einen Nachfolger. Komm zu uns in unser friedliches Schwabendorf, forderte er mich auf, wir brauchen dich!

      Von wegen friedlich: Auch in Transkaukasien waren Unruhen ausgebrochen. Der Ruf nach nationaler Eigenständigkeit wurde laut. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Sturm auch die deutschen Einwanderer erreichen würde, die übers ganze Land verstreut in ihren Dörfern lebten.

      Was mich letztlich bewog, nach zwölf Jahren meinen Aufenthalt in Sankt Petersburg abzubrechen, weiss ich selbst nicht genau. Vielleicht wollte ich dabei sein, wenn sich Georgien von Russland lösen würde, vielleicht hatte ich Heimweh nach meinen Eltern, nach unserem Gutshof Eben-Ezer und nach der Steppe, wo ich aufgewachsen bin, vielleicht sehnte ich mich nach einem Leben mit Jakob und Menschen, die wie ich Deutsch sprechen.

      Wie auch immer: Mitte Oktober 1905 übergab ich meine Praxis einem Nachfolger und fuhr nach Katharinenfeld. Seither lebe ich an der Kreuzgasse im Haus meines verstorbenen Vorgängers. Rosina Dieterle, eine Witwe aus dem Dorf, besorgt meinen Haushalt.

      Jakob holt mich aus meinen Erinnerungen zurück ins Jahr 1914. Er ist unterdessen beim dritten Satz von Rachmaninows Klavierkonzert angelangt und singt den Auftakt, der dem Orchester vorbehalten ist, ohne Worte natürlich, allein mit Tatata und Tataratata, bevor er am Klavier in eine Zwiesprache mit den imaginären Musikern tritt. Schon in den ersten beiden Sätzen hat er einzelne Instrumente singend nachgeahmt.

      In den letzten Takten des Stücks intoniert Jakob mit seiner Stimme den Part des Orchesters, welches das Grundthema wieder aufnimmt. Seine Finger hämmern wie rasend auf die Tasten. Sein Gesicht ist schweissüberströmt. Die Musik, scheint mir, überträgt sich auf seinen ganzen Körper, der in ständiger Bewegung ist. Er spielt den furiosen Schluss mit der ihm eigenen Brillanz. Dann legt er, wie er es häufig tut, seine Hände auf die Oberschenkel und rührt sich nicht.

      Mein jüngster Bruder galt als Wunderkind. Von seinem sechsten Lebensjahr an lebte er während der Wintermonate in Katharinenfeld im Haus des Advokaten Georg Erchinger und seiner Frau Lotte, der Freundin meiner Mutter. Er wuchs mit deren Töchtern, Martha und Marie, auf. Mit Marie ist er inzwischen verheiratet. Von Ludwig Wieland, dem Organisten und damaligen Dirigenten des Sinfonieorchesters, erhielt er Klavierunterricht und wurde in Musiktheorie ausgebildet. Daneben erlernte er das Orgelspiel. Drei bis vier Stunden am Tag sass er am Piano und übte. Jeweils am letzten Sonntag im Monat nach dem Gottesdienst luden die Erchingers ihre Freunde zu einer Matinee in ihr Haus. Jakob spielte auf dem Klavier Eigenkompositionen und begleitete Solisten des Orchesters, die ihre Kunst vorführten. Daneben besuchte er die Dorfschule und musste in den Sommermonaten auf dem elterlichen Gutshof, neben den Übungen, die ihm Ludwig Wieland aufgegeben hatte, mit Hilfe unseres Hauslehrers, Cornelius Fresendorff, nachholen, was der Schulmeister in Katharinenfeld versäumt hatte, ihm beizubringen. Unser Vater legte Wert darauf, dass wir unser Wissen mehrten. Was einer im Kopf habe, pflegte er zu sagen, könne ihm niemand stehlen.

      In der Mitte des zweiten Satzes des Klavierkonzerts hat Jakobs Frau den Pavillon betreten und eine Reihe hinter mir Platz genommen. Unsere Familie ist mit den Erchingers gleich doppelt verschwägert. Maries ältere Schwester, Martha, ist mit Hannes verheiratet. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie da war. Maries Duft ist unverkennbar. Keine andere Frau in Katharinenfeld benutzt Moschusparfum. Sie ist ihrer siebenunddreissig Jahre zum Trotz noch immer eine Schönheit. Sie macht auch einiges dafür. Allein für ihre Frisur wendet sie viel

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