Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser

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Kaukasische Sinfonie - Werner Ryser

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den Dingen, über die man auf Eben-Ezer nicht sprach.

      Und jetzt kam dieser Mensch aus Kurland und wollte mit ihr den Walzer spielen, der sie, nachdem der Leutnant weitergeritten war, über Wochen als Ohrwurm gequält hatte. «Nein!», sagte sie schroff. «Ich kenne das Stück nicht und will es auch nicht kennenlernen.»

      Fresendorff schaute sie verwundert an und spielte dann die ersten Takte von Ännchen von Tharau. «Aber das habt Ihr gewiss schon gehört?»

      Sophie nickte. Sie kannte das populäre Liebeslied.

      Von diesem Abend an spielten die beiden regelmässig deutsche und russische Volkslieder – er mit seiner Klarinette die Grundmelodie, sie die Begleitung. Wenn Sophie sang, dann intonierte der Hauslehrer, zum Vergnügen von Simon und Mayranoush, die zweite Stimme. Karl, Hannes und der fünfjährige Jakob stiegen aus den Betten und schlichen sich in ihren Hemden vor die Tür des Salons, um zuzuhören. Und selbst der alte Wassilij, zu dessen Pflichten es gehörte, die sechs Ulmer Doggen aus ihrem Zwinger zu befreien, damit sie nachts das Anwesen schützten, blieb draussen auf dem Platz vor dem Haus unter dem offenen Fenster stehen und lauschte.

      Cornelius Fresendorff war ein musikalischer Mensch, dem Jakobs Talent nicht verborgen blieb. Er war der Meinung, das Kind sei alt genug, die Grundzüge der Musiktheorie kennenzulernen. «Wenn mich nicht alles täuscht, verfügt Euer Jüngster über eine ausserordentliche Begabung, die unterstützt werden muss», sagte er zu Sophie. Er würde sich freuen, Jakob einmal in der Woche unterrichten zu dürfen. Zögernd stimmte sie zu, und so lehrte Fresendorff Jakob seit einem halben Jahr die Notenschrift, sprach mit ihm über Taktarten und Rhythmen, über Tonhöhen, Intervalle und Akkorde, und selbst die systematische Anordnung aller zwölf Dur- und Molltonarten im Quintenzirkel erläuterte er ihm.

      Bereits nach kurzer Zeit war Jakob in der Lage, einfache Lieder ab Blatt zu spielen. Sobald er die Melodien im Kopf hatte, begann er sie zu variieren. Tatsächlich schien ihm das Improvisieren und das Erfinden neuer Melodien mehr Freude zu machen als das strenge Spiel nach Vorgabe.

      «Du musst zuerst die Grundlagen beherrschen, bevor du zu komponieren beginnst», versuchte Cornelius Fresendorff ihn zu bremsen.

      «Aber die Melodien sind hier drin!» Der Bub schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Sie wollen hinaus. Ich muss sie spielen.»

      Kurz vor Weihnachten gab der Balte Jakob den Klavierauszug des ersten Satzes der Berchtoldsgaden-Musik. «Versuch das einmal!», forderte er ihn auf. «Es stammt von Leopold Mozart, dem Vater des grossen Wolfgang Amadeus, der bereits als Sechsjähriger in Konzertsälen aufgetreten ist.»

      Jakob setzte an, spielte die ersten Takte, zögerte, spielte weiter. Manchmal unterliefen ihm Fehler. Sein Lehrer stand daneben, schweigend. Sophie verkrampfte die Hände. «Das ging schon ganz ordentlich», meinte Fresendorff, als der Junge schliesslich aufblickte. «Das werden wir jetzt üben, bis es sitzt, und so werden wir es in Zukunft mit allem halten, was ich dir gebe.»

      Alexander von Kutzschenbach

      1

      Immer nach Ostern, wenn Wildtulpen die Steppe in einen bunten Blumenteppich verwandelten, über den bereits frühe Schmetterlinge gaukelten, liessen Sophie und Simon ihre Buben in der Obhut von Mayranoush und Cornelius Fresendorff zurück und fuhren für ein paar Tage nach Tiflis. Dort kauften sie all jene Dinge ein, die man auf Eben-Ezer benötigte und die in Katharinenfeld nicht zu bekommen waren. Die Diepoldswilers pflegten in jenem Hotel am vornehmen Golowin-Boulevard abzusteigen, in das sie Vitus von Fenzlau kurz vor seinem Tod eingeladen hatte.

      Wie jedes Jahr war auch im Frühling 1881 ein Abend für die Oper reserviert. Dieses Mal besuchten sie das Gastspiel einer französischen Truppe, die mit Bizets «Carmen» durch Osteuropa und Russland reiste. Besonders die Habanera hatte es Sophie angetan. Am Vormittag des nächsten Tages erwarb sie in einem Musikgeschäft die Noten der Klavierversion der Arie.

      Später spazierten sie durch die engen Gassen der Sololaki-Vorstadt. An den hölzernen Säulen der mit Schnitzereien verzierten Balkone der Wohnhäuser rankten Weinreben in die Höhe. «Tbilissi – die vielbalkonige Schönheit», bemerkte Sophie auf Russisch. Simon schaute sie fragend an.

      «So hat Jakow Petrowitsch Polonski die Stadt beschrieben», erklärte sie. «Er war ein Dichter und arbeitete während seines Aufenthalts im Kaukasus für den Gouverneur. Mein Vater kannte ihn. Er hat mir viel von ihm erzählt.»

      Hinter den Häusern des Viertels stiessen sie auf einen jener gewundenen Pfade, die durch einen mit Gestrüpp und Wald bewachsenen steilen Hang hinauf zum Mtazminda führte. «Mta» heisse auf Georgisch Berg und «zminda» heilig, übersetzte Sophie und bat Simon, mit ihr auf den Gipfel zu steigen.

      Schon als Backfisch war sie auf dem heiligen Berg gestanden. Ihr Vater, den sie damals noch für ihren Paten hielt, hatte sie 1869 als Vierzehnjährige zum ersten Mal nach Tiflis mitgenommen. Seit Tagen hatte sie sich auf den Ausflug gefreut, und als es endlich so weit war, hatte sie sich schön gemacht und herausgeputzt. Sie trug ein weisses Musselinkleid mit gestuften Volants und dazu einen breitrandigen Strohhut mit einem hellblauen Band, das, wie sie fand, in einem reizvollen Kontrast zu ihren blonden Locken stand. Mayranoush hatte ihr sogar etwas Wangenrouge aufgetragen.

      Ihre weissen, engen Schnürstiefelchen waren für den steilen Aufstieg zum Mtazminda gewiss nicht das geeignete Schuhwerk, und Sophie war froh, als sie auf halber Höhe, mitten in der Wildnis, eine Kuppelkirche mit Glockenturm erreichten, bei der sie rasten durfte. Der Baron erzählte ihr, das Gotteshaus sei Dawit geweiht, einem jener dreizehn frommen syrischen Väter, die im sechsten Jahrhundert ins Land gekommen waren, um den Ungläubigen mit dem Höllenfeuer zu drohen und ihnen den rechten Weg zu weisen. Im Innern der Kirche blieben sie vor einer Ikone stehen. Auf Goldgrund war ein Heiliger dargestellt. Er trug ein senfgelbes Kleid und einen blauen Überwurf. In der linken Hand hielt er eine Bibel. Er hatte gepflegtes, schwarzes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einen akkurat getrimmten Bart.

      «Als käme er direkt aus dem Friseursalon», spöttelte von Fenzlau und behauptete, so habe Dawit natürlich nicht ausgesehen. «Er hauste hier oben in einer Höhle. Ich stelle mir vor, dass er sich nur mit kaltem Wasser waschen konnte. Vermutlich verbreitete er keinen Rosenduft. Sein Haar, falls er welches hatte, hing ihm bis über die Schultern und war verfilzt und gewiss voller Läuse, ebenso der Bart, der die Brust bedeckte. Sein Kleid war bestimmt von minderer Qualität und vielfach geflickt. Möglicherweise ernährte er sich wie Johannes Baptista von Heuschrecken und wildem Honig.» Dann erzählte er Sophie halblaut die Legende von Dawit.

      Einmal in der Woche sei der Eremit hinunter in die Stadt gestiegen, um dort, sehr zum Missfallen der zoroastrischen Priesterschaft, den Heiden das Evangelium zu verkünden. Um sich des Konkurrenten zu entledigen, hätten sie eine Schwangere dazu angestiftet zu behaupten, sie sei von Dawit vergewaltigt worden. «Die aufgebrachte Menge wollte den Heiligen steinigen. Der aber berührte mit seinem Stab den Bauch seiner Anklägerin und fragte den Fötus, wer sein Vater sei. Und dieser, oh Wunder, gab Auskunft, und die Verleumderin gebar auf der Stelle einen Stein. Daraufhin schüttelte Dawit den Staub der Stadt Tiflis von den Füssen und wanderte nach Kachetien, wo er das Höhlenkloster Garedscha gründete und mit seinen Anhängern ein gottgefälliges Leben bis an sein seliges Ende führte.»

      Sophie hatte während der Erzählung den Paten aus den Augenwinkeln beobachtet. Unter seinem dichten Schnurrbart zuckte es verdächtig. Sie wusste, dass er sich über den Gottesmann lustig machte. Zu ihrem Kummer gehörte der Baron zur Schar der Ungläubigen. Luise Hegele, die Frau des Pastors von Katharinenenfeld, bei deren Familie sie während der Wintermonate lebte, hatte ihr ans Herz gelegt,

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