Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser

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Kaukasische Sinfonie - Werner Ryser

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an, die unsterbliche Seele ihres geliebten Paten zu retten.

      Vom Gipfel des Mtazimda bot sich Simon und Sophie ein überwältigender Ausblick. Unter ihnen lag die Stadt, die sich zwischen den Ausläufern des Saguramibergrückens und dem östlichen Teil des Trialetischen Massivs zu beiden Seiten der Kura ausbreitete. Es war ein ungewöhnlich klarer Tag. Im Nordosten waren die schneebedeckten Berge des Grossen Kaukasus zu erkennen. Der Anblick des fernen Gebirges weckte in Simon Erinnerungen an seine Jugend in der Schweiz.

      «Was beschäftigt dich?» Sophie kannte das Gesicht ihres Mannes, wenn seine Gedanken in die Vergangenheit abschweiften.

      «Nichts Besonderes.» Ohne zu wissen, weshalb, hatte sich Simon immer geschämt, ihr zu erzählen, dass er, gerade einmal elf Jahre alt, als elendes Knechtlein zu einer Kleinbauernfamilie in eine Kinderhölle verdingt worden war. Er litt auch unter seiner mangelhaften Bildung. Seine Frau wusste lediglich, dass er nach dem Tod seiner Schwester dank Lydia Amsoldinger, der Pflegemutter seines Bruders, bei zwei gütigen Täufern das Käserhandwerk hatte erlernen dürfen. Auch dass sein Bruder Jakob ihn nach Grusinien begleitete hatte und drei Tagesreisen nördlich von Eben-Ezer ums Leben gekommen war, wusste sie. Simon hatte ihn am Ufer der Kura bei Uplisziche begraben. Damals war in ihm die Angst gewachsen, dass alle Menschen, die er liebte, vorzeitig zu Tode kommen müssten. Er glaubte es noch heute.

      «Gehen wir weiter», sagte er. Sie wanderten über einen mit duftenden Kiefern bewachsenen Kamm zur Ruine der Festung Nariqala. Sie hatte eineinhalb Jahrtausend jedem feindlichen Ansturm getrotzt und war erst 1827 zerstört worden, als ein Blitz die Pulvervorräte der russischen Besatzer in die Luft sprengte. Sophie und Simon suchten sich auf dem alten Gemäuer ein sonniges Plätzchen und schauten über die Türme, Kuppeln und Dächer zur Metechi-Kirche, die auf dem Felsenband über dem linken Kuraufer stand. Sophie lehnte den Kopf an die Schulter ihres Mannes. «Was für Leute mögen dort drüben leben?», fragte sie und wies auf die ineinander verschachtelten Häuser und Häuschen hinter dem Gotteshaus.

      Simon, der oft nach Tiflis fuhr, schwieg. Er kannte das Avlabari-Viertel, in dem Familien in heruntergekommenen Behausungen lebten und von deren Kindern manchmal nicht gewiss war, welcher Mann sie gezeugt hatte. Sophie brauchte nicht zu wissen, dass er dort bis zu seiner Heirat ab und zu Huren aufgesucht hatte, Frauen aus ganz Transkaukasien, die in den engen, schmutzigen Gassen zwischen Handwerkern, Krämern und lärmigen Kneipen ihrem Gewerbe nachgingen und ihren Kunden gegen ein geringes Entgelt für eine Stunde die Illusion gaben, geliebt zu werden.

      Als sie am späten Nachmittag dieses Tages im Salon des Hotels beim Tee sassen, trat Herr von Kutzschenbach an ihren Tisch und fragte, ob er ihnen Gesellschaft leisten dürfe. Er küsste Sophies Hand. Über ihr Gesicht huschte ein rätselhaftes Lächeln. Sie dachte an ihren Vater, der aus Livland stammte. Er hatte sich mehr als einmal über Alexander von Kutzschenbach lustig gemacht. Weil er auf einem brandenburgischen Rittergut aufgewachsen war, hatte er ihn als preussischen Junker bezeichnet und sich darüber mokiert, dass der Mann seinen Schnurrbart à la Wilhelm trug: buschig und an den Enden aufwärts gezwirbelt. «Fehlt nur noch, dass er sich auf beiden Wangen ein Gestrüpp wachsen lässt, wie sein Idol», pflegte er zu sagen. Er spielte damit auf den imposanten Backenbart des Monarchen an. Mit seiner ganzen Deutschtümelei verstehe es Kutzschenbach ausserdem bestens, sich im Gouverneurspalast beim Vizekönig, seiner kaiserlichen Hoheit Grossfürst Michail Nikolajewitsch Romanow, Liebkind zu machen. Das habe ihm ein zinsloses Darlehen eingebracht. Man werde sehen: Am Schluss verleihe ihm der Zar noch einen russischen Adelstitel. So seien sie eben, die Reichsdeutschen: geschmeidig und berechnend.

      «Was für ein Zufall, dass ich Sie hier treffe», wandte sich von Kutzschenbach an Simon. «Ich beabsichtigte nämlich, Sie in den nächsten Tagen aufzusuchen.» Er besitze unweit von Dmanissi einen rund tausend Dessjatinen grossen Wald, den er verkaufen wolle, fuhr er fort. «Er grenzt direkt an Ihren Forst, und wie ich höre, möchten Sie Ihre Waldungen vergrössern.»

      Das traf zu. Seit der Viehbestand von Eben-Ezer auf rund tausend Stück angewachsen war, hingen in der Käserei sechs grosse Kupferkessel mit einem Volumen von je hundert Litern. Unter ihnen standen drei Feuerwagen, mit denen man die Hitze regulieren konnte. Man brauchte sie nur hin- und herzuschieben. Aber es war abzusehen, dass man langfristig mehr Brennholz benötigen würde, als im eigenen Wald, wo man auch Bauholz schlug, nachwuchs. Dawit Achwlediani, der grusinische Obersenn, hatte schon davon gesprochen, zusätzlich Kuhdung als Brennmaterial zu verwenden. Aber Simon war die Vorstellung, seinen Emmentaler mit Mist zu produzieren, unangenehm. Das Angebot Kutzschenbachs kam ihm deshalb wie gerufen.

      «Weshalb wollen Sie den Forst abstossen?», fragte Sophie.

      Der Deutsche schaute sie erstaunt an. Er war es nicht gewohnt, dass sich eine Frau in Männergeschäfte einmischte. Dann lachte er. «Das will ich Ihnen gern sagen, Madame. Ich brauche flüssige Mittel und verkaufe deshalb Land. Nicht nur diesen Wald. Ich will bei Saparlo östlich von Dmanissi eine Tochtersiedlung mit einer Glashütte und zwei Ziegeleien aufbauen. Ein deutscher Direktor wird das Ganze leiten. Wir werben in Schlesien Glasfacharbeiter an. Für die Herstellung von Backsteinen und Ziegeln werden wir Perser, Griechen und Tataren anlernen. Das Dorf soll Alexandershütte heissen.»

      Wie viel der Wald denn kosten solle, wollte Simon wissen.

      «Fürst Zviad Ratischwili wäre bereit, fünftausend Rubel zu bezahlen. Ich verkaufe ihn Euch für dieselbe Summe plus einen Rubel, damit ich dem Hurensohn sagen kann, Ihr hättet mir ein besseres Angebot gemacht.»

      Ratischwilis Hof befand sich in Kariani, südlich von Eben-Ezer. «Lass dich von seinem Titel nicht beeindrucken», hatte sein Schwiegervater Simon einmal gesagt. «1793 hat der Zar den adeligen Familien in Grusinien dieselben Privilegien gewährt wie dem russischen Adel. Sie alle dürfen sich Knjaz nennen, egal ob sie von königlichem Geblüt sind oder nur Krautjunker wie Ratischwili, der nicht einmal hundert Kühe besitzt. Die grosse Zeit seines Geschlechts ist längst vorbei.»

      Der Preis scheine ihm hoch, meinte Simon. Für das Geld könne man eine Käserei samt dem dazugehörigen Inventar kaufen.

      «Was nützt die schönste Käserei, wenn das Holz fehlt, den Käse zu produzieren?» Von Kutzschenbach lehnte sich zurück. «Wissen Sie was? Ich lade Sie und Ihre Familie ein, die Pfingsttage bei uns auf Mamutlie zu verbringen. Wir können dann in aller Ruhe die Einzelheiten besprechen.» Offenbar war er sich sicher, dass der Handel zustande kommen würde.

      Wieder kam Sophie ihrem Mann zuvor: «Wir nehmen Ihre Einladung gerne an, Herr von Kutzschenbach.»

      Als sie am nächsten Tag nach Eben-Ezer zurückfuhren, sang Sophie leise den Text der Habanera: L’amour est un oiseau rebelle.

      «Was heisst das?», wollte Simon, der kein Französisch verstand, wissen.

      «Die Liebe ist ein wilder Vogel.»

      «Ist sie das?»

      «Manchmal schon.» Sie schmiegte sich an ihn.

      «Aha.» Simon war mit seinen Gedanken woanders. «Weshalb weiss von Kutzschenbach, dass ich unseren Forst vergrössern muss?»

      Sophie rückte von ihm ab. «Gottlieb Graf wird es ihm gesagt haben. Du hast ihm ja von deinen Sorgen erzählt.»

      Gottlieb Graf betrieb in Karabulakhi, fünf Werst nördlich von Eben-Ezer, Milchwirtschaft. Er stammte aus Reichenbach im Berner Oberland und war vor fünfzehn Jahren nach Grusinien gekommen. Wie die Ammeters, die Siegenthalers und andere Schweizer hatte er ein paar Jahre auf Kutzschenbachs Gutshof Mamutlie als Käser gearbeitet und sich dann selbstständig gemacht. Er hatte Käthi Bieri geheiratet, die Barbara von Kutzschenbach als Hausmädchen zur Hand gegangen war. Die Grafs und die Diepoldswilers

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