Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser

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Kaukasische Sinfonie - Werner Ryser

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      Im Frühjahr 1879 entdeckte Sophie Diepoldswiler, dass Jakob über ein ausserordentliches musikalisches Talent verfügte. Wenn sie am Piano sass, wich der Dreijährige nicht von ihrer Seite. Er kniete neben ihr auf der Klavierbank und schaute gebannt auf ihre Finger. Manchmal sang sie mit ihm Kinderlieder, die sie mit einfachen Akkorden begleitete. Wenn sie im Gemüsegarten arbeitete, spielte er im Kies zwischen den Beeten. Immer wieder stellte er ihr Fragen zur Musik, die ihn beschäftigten. Sophie antwortete, so gut sie konnte. Wurde es ihr zu viel, schickte sie ihn zu Mayranoush. Die Armenierin war ihre Amme gewesen. Heute führte sie die Hauswirtschaft auf Eben-Ezer.

      Einmal, als Sophie aus dem Garten zurückkehrte, sass Mayranoush auf der Veranda und rüstete Gemüse. Auch wenn immer mehr graue Strähnen ihr einst rabenschwarzes Haar durchzogen, war sie, fand Sophie, die schönste Frau, die sie kannte. Niemand hatte Augen wie Mayranoush: mandelförmig, unergründlich, dunkel. Sie neigte zur Melancholie. Nur selten spielte ein Lächeln um ihre vollen Lippen. Sie war gross und schlank. Nach dem Tod ihres Verlobten, von dem sie ein Kind empfangen hatte, wollte sie nichts mehr von Männern wissen. Seit ihr Sohn, Hovan, Sophies Milchbruder, einjährig an der Bräune verstorben war, hatte sie ihre ganze Liebe Sophie geschenkt, die an ihr hing, wie man an einer Mutter hängt. Wenn sie unter sich waren, sprachen sie Armenisch miteinander.

      «Wo ist Jakob?», fragte Sophie.

      Mayranoush unterbrach ihre Arbeit. «Er ist oben und spielt Klavier.»

      «Er spielt Klavier?» Sophie schaute sie ungläubig an.

      «Gewiss, er macht das schon seit einiger Zeit. Immer wenn er aus dem Gemüsegarten kommt, geht er in eure Wohnung und spielt. Hörst du ihn nicht?»

      Sophie lauschte. Tatsächlich waren aus dem Fenster ihrer Wohnung ganz leise Töne zu vernehmen – manchmal sogar Dreiklänge. «Wer hat ihn das gelehrt?»

      Mayranoush lächelte. «Wenn nicht du, wer dann?»

      Sophie schüttelte den Kopf. Sie ging ins Haus und stieg die Treppe hoch. Die Tür zur Wohnung war offen. Ebenso jene zum Salon. Auf der Schwelle blieb sie stehen.

      Jakob kniete auf der Klavierbank, damit er die Tasten des Pianos erreichen konnte. Er sang eine offenbar selbst erfundene Melodie, verwendete dazu Worte in einer eigenen, unverständlichen Sprache und begleitete sie mit Akkorden. Sophie trat hinter ihn und schaute ihm über die Schultern. Er schlug mit dem Zeigefinger der linken Hand den Grundton an und mit Zeige- und Ringfinger der rechten die entsprechenden Tasten der grossen Terz und der Quinte. Scheinbar bereitete es ihm keine Mühe, Dreiklänge zu bilden.

      Das Kind spürte, dass es nicht mehr allein war. Es brach sein Spiel ab, drehte sich um und schaute die Mutter schuldbewusst an.

      Sophie hob den Kleinen hoch und schloss ihn in die Arme. «Wer hat dich das gelehrt, Jakob?»

      «Niemand, es ist ganz einfach.» Der Bub löste sich von ihr. «Ich zeige es dir.» Er kniete sich wieder auf die Klavierbank. «Wenn du hier beginnst», er schlug ein C an, «und dann alle weissen Tasten der Reihe nach hintereinander spielst, dann passen die Töne zueinander, bis du wieder denselben hast wie am Anfang, nur höher. Du kannst damit weiterfahren bis ans Ende des Klaviers. Es sind immer dieselben Töne, von ganz unten bis ganz oben, genau gleich wie eine Treppe.» Sein Zeigefinger hämmerte mit rasender Geschwindigkeit drei Tonleitern hintereinander hinauf und hinunter.

      Sophie war bass erstaunt. «Und schaffst du es auch, wenn du die Tonleiter», sie korrigierte sich: «die Reihe mit einer anderen Taste anfängst, beispielsweise mit dieser?» Sie zeigte aufs G. Gespannt beobachtete sie, wie Jakob einen Ton nach dem andern anschlug und nach dem E, ohne zu zögern, ein Fis spielte, bevor er mit dem eine Oktave höheren G zum Abschluss kam.

      «Aber diese Reihe kannst du wohl nicht.» Sophie zeigte aufs H. Die H-Dur-Tonleiter mit ihren fünf Kreuzen schien ihr denn doch zu schwierig für den Kleinen. Jakob lachte glücklich. Im Nu spielte er h-cis-dis-e-fis-gis-ais-h und schaute die Mutter stolz an. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel.

      «Ich kann noch mehr.» Jakob spielte sein Lieblingslied: C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Caffee! Er sang es und spielte dazu, zeitlich versetzt, die zweite Stimme auf dem Klavier.

      «Ich fasse es nicht», flüsterte Sophie. «Sag einmal Jakob», sie trat zu ihm ans Piano, «weisst du auch wie die Töne heissen? Zum Beispiel dieser hier?» Sie deutete aufs C.

      Der Kleine sah sie verwundert an. «Haben sie denn Namen?»

      «Und wie nennt man das?» Sophie spielte eine Tonleiter.

      «Eine Reihe?», fragte Jakob zweifelnd.

      «Kannst du drei Töne, die zusammenpassen, gleichzeitig spielen?»

      Der Bub schlug verschiedene Dur- und Moll-Akkorde an.

      «Und wie sagt man diesen drei Tönen?»

      «Ich weiss es nicht.»

      Sophie fuhr ihm über den Kopf: «Das musst du auch nicht wissen, mein Liebling, noch nicht. Ich bin stolz auf dich!» Sie nahm sich vor, ihm zu zeigen, wie man richtig spielt, welche Finger auf welche Tasten gehören.

      Von diesem Tag an setzte sie sich jeden Morgen eine Stunde mit Jakob ans Klavier. Zuerst brachte sie ihm bei, wie man Tonleitern hinauf und hinunter korrekt mit den fünf Fingern der rechten Hand spielt. Sophie gab ihm auf, das Erlernte fleissig zu üben. «Du musst so weit kommen», erklärte sie ihm, «dass deine Finger, ohne dass du denkst, die richtigen Tasten von allein finden.» Aber das war kein Problem für ihn. So konnte sie ihm schon bald zeigen, wie man die linke Hand einsetzt.

      Lange bevor sie Jakob im Klavierspiel unterrichtete, hatte Sophie mit ihm zahlreiche Kanons gesungen. Jeden Abend vor dem Einschlafen: Dona nobis pacem oder O wie wohl ist mir am Abend, tagsüber: Froh zu sein, bedarf es wenig, auch Hejo, spann den Wagen an und natürlich Bruder Jakob, an dem er wegen der Namensvetternschaft besonders Freude hatte.

      Zwei Jahre später war Jakob in der Lage, anspruchsvolle Stücke zu spielen. Sophie würde jenen Sonntag Ende März wohl nie vergessen. Als sie und Simon von einem Spaziergang zurückkehrten, überraschten sie ihre beiden grusinischen Mägde, die im Treppenhaus standen und andächtig dem Klavierspiel lauschten, das durch die angelehnte Wohnungstür in der Beletage klang. Sophie hielt ihren Mann am Arm zurück. «Jakob hat ein neues Stück entdeckt», flüsterte sie.

      «Kennst du es?», fragte Simon.

      Sie nickte. «Es ist der Fandango in d-Moll von Padre Antonio Soler, einem spanischen Komponisten. Ich habe ihn im letzten November geübt. Aber er spielt ihn besser als ich!»

      «Der Kleine ist ein Künstler», behauptete Ekaterina, als die Schlussakkorde verklungen waren. Tamara nickte bestätigend.

      «Was sagt sie?», fragte Simon, der nicht Georgisch konnte.

      «Jakob sei ein Künstler», übersetzte Sophie. Sie registrierte, wie ihr Mann lächelte.

      «Ein Künstler», wiederholte er. Jakob, das wurde er nicht müde zu behaupten, sei seinem eigenen, viel zu früh verstorbenen Bruder, dem Maler, dessen Namen er trug, wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie sein Onkel war der kleine Jakob feingliedrig, hatte ein von Sommersprossen übersätes Gesicht und rotes, weiches Haar. Sophies Schwager hatte einige Bilder und Skizzen hinterlassen,

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