Kaukasische Sinfonie. Werner Ryser

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Kaukasische Sinfonie - Werner Ryser

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Simon schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. «Er wird es von Gottlieb erfahren haben.»

      «Kutzschenbach kann den Hals nicht vollkriegen», stellte Sophie fest. «Es genügt ihm nicht, Grossgrundbesitzer zu sein. Nein, er will auch noch Unternehmer werden. Alexandershütte! Wenn du mich fragst, geht es ihm nicht darum, einen unserer drei Zaren dieses Namens zu ehren, sondern allein sich selbst: Alexander von Kutzschenbach.»

      «Und weshalb hast du seine Einladung angenommen, wenn du ihn nicht magst? Weisst du überhaupt, ob mir das passt?»

      «Ach Simon!» Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. «Vielleicht hättest du Nein gesagt. Aber ich wollte schon lange einmal Mamutlie sehen. Du weisst doch, wie neugierig ich bin. Man hört so viel über Herrn von Kutzschenbach und seine Frau.»

      Das liess sich nicht leugnen. Um die abenteuerlichen Umstände der Heirat des Deutschen und den Aufbau seines Gutes rankten sich Legenden.

      Alexander von Kutzschenbach galt als Abenteurer. In Katharinenfeld erzählte man sich, sein Vater, ein preussischer Rittergutsbesitzer, habe mit einem ungeschickten Landerwerb einen grossen Teil des Familienvermögens verloren, weshalb sein Ältester in den frühen Sechzigerjahren aufgebrochen sei, um sein Glück in Transkaukasien zu suchen. Anders als Simon, der derselben Auswanderergeneration angehörte, sich aber dank der Heirat mit Sophie in ein gemachtes Nest setzten konnte, hatte der Deutsche ganz von vorn beginnen müssen. Als der Siebenundzwanzigjährige 1862 nach Grusinien gekommen war, liess er sich hundert Werst südwestlich von Tiflis, nahe der Grenze zur Türkei, nieder. Die Gegend, in der fast nur Tataren lebten, galt als unsicher. Aber das focht ihn nicht an. Er pachtete zweitausendsechshundert Hektaren Wildnis und machte sich daran, sie urbar zu machen.

      Auch seine Frau war eine bemerkenswerte Person. Von Kutzschenbach, der in den Bernischen Blättern für Landwirtschaft einen Obersenn gesucht hatte, stellte 1863 ihren bereits fünfzig Jahre alten Vater an, den Käser Christian Scheidegger aus Lützelflüh. Die damals dreiundzwanzig-jährige Barbara begleitete ihre Eltern in den fernen Kaukasus. Zunächst hausten die Auswanderer, gemeinsam mit dem Patron, unter primitivsten Bedingungen in einer tatarischen Erdhütte, einer in einen Hang gegrabenen Höhle, die man durch einen Türsturz aus unbehauenen Balken betrat. Sie bestand aus einem einzigen Raum, in dem man knapp stehen konnte. Man schlief auf Strohsäcken. Gekocht wurde auf einem alten Herd, der gleichzeitig als Ofen diente. Ein Bach in der Nähe lieferte das notwendige Wasser. Unter den beengten Verhältnissen kam es, wie es kommen musste: Der Preusse schwängerte die um fünf Jahre jüngere Barbara und heiratete sie.

      Während ihr Mann seinen Besitz aufbaute und sich mit dem Schwiegervater um die Milchwirtschaft kümmerte, besorgte die junge Frau, unterstützt von ihrer Mutter, den Haushalt. Zunächst in ihrem Erdloch, dann in einer windschiefen Blockhütte. Nachdem die Männer endlich die Sennerei und die Ställe fürs Vieh errichtet hatten, machten sie sich an den Bau eines Herrenhauses. Das geschah sechs Jahre nach ihrer Ankunft in Transkaukasien. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Barbara bereits drei Kinder zur Welt gebracht.

      In den folgenden Jahren wurde Mamutlie, ihr Gutshof, zu einem Musterbetrieb ausgebaut. Von Kutzschenbach und das ehemalige Bauernmädchen gehörten inzwischen zu den reichsten Kolonisten in Grusinien. Sie hatten, umgeben von einer ihnen feindlich gesinnten tatarischen Bevölkerung, welche die Grenzen ihres Besitztums nicht anerkennen wollte, gewissermassen aus dem Nichts ein kleines Königreich aufgebaut. Von Kutzschenbach betrieb Viehwirtschaft. Daneben züchtete er Pferde und Schweine. Inzwischen war Mamutlie dreimal grösser als Eben-Ezer.

      Simon zog Sophie an sich. «Ich bin auch neugierig, Mamutlie kennenzulernen. Ausserdem will ich den Wald, koste es, was es wolle!»

      Ein paar Tage später ritt er durch den Forst, den ihm der Deutsche zum Kauf angeboten hatte. Er stellte fest, dass es sich um einen prächtigen Nutzwald handelte, in dem vor allem Eichen, Rot- und Weissbuchen, Ahorn und Eschen wuchsen. Gottlieb Graf hatte ihm erzählt, dass auf Mamutlie neben den zahlreichen Käsern und Handwerkern auch deutsche Forstleute arbeiteten. Sie hatten zusätzlich zu den Laubbäumen Fichten, Weisstannen und Kiefern angepflanzt, die in frühestens achtzig Jahren hiebreif sein würden. Simon kam zum Schluss, dass der geforderte Preis nicht zu hoch war.

      2

      Am 4. Juni 1881, dem Tag vor Pfingsten, brachen die Diepoldswilers schon früh in ihrer leichten, mit einem Halbverdeck versehenen Kutsche auf. Simon, der das Gefährt selbst lenkte, hatte vier kräftige Pferde vorgespannt, denn Mamutlie lag auf fünfzehnhundert Meter über dem Meer. Sie fuhren Richtung Süden. Kühe, die zum Melkplatz getrieben wurden, kreuzten ihren Weg. Hirten auf ihren ungesattelten Pferden grüssten, wenn sie den Patron und seine Familie sahen. An den Hängen der Hügel linker Hand der Strasse weideten Schafe. Sie passierten Kiriani und Kamarlo, zwei kleine Siedlungen mitten in der Einsamkeit des weiten Graslands. Im fahlen Morgenlicht verlor sich die Steppe nach Westen im Ungefähren. Die um diese Jahreszeit noch schneebedeckten Kämme des Dschawachetischen Gebirges blieben unter einer Wolkendecke verborgen.

      Sophie sass im Fond des Wagens. Der fünfjährige Jakob, dessen Kopf in ihrem Schoss ruhte, war eingeschlafen. Ihr gegenüber las Karl ein Buch. Seit er das Alphabet begriffen hatte, versuchte er alles Schriftliche, das ihm in die Hände geriet, zu entziffern. Er war ein feinfühliges Kind. Am vergangenen Christfest, das man im Herrenhaus gemeinsam mit dem Gesinde zu feiern pflegte, hatte Karl die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorlesen dürfen. Anschliessend stellte er sich vor Wassilij, der still in einer Ecke sass, und rezitierte auswendig auf Russisch Wort für Wort die Überlieferung vom Engel, der den Hirten auf dem Feld erschienen war, so wie es in der orthodoxen Bibel aufgeschrieben war. Der alte Mann hatte ihn ungläubig angestarrt. Als der Bub fertig war, verliess Wassilij den Raum und kehrte kurz darauf zurück. Er drückte Karl ein Heiligenbildchen mit der Muttergottes von Kasan und ihrem Kind in die Hand. Dann umarmte er den Jungen und küsste ihn auf beide Wangen. Als der Russe in seiner Jugend an die Armee verkauft worden war, hatte er von seiner Liebsten zum Abschied einen Bogen mit einhundert Bildchen der Gottesmutter geschenkt bekommen. Vor jeder Schlacht und jedem Gefecht hatte er eines davon gegessen. Er war überzeugt, nur deshalb von Hieb und Stich, von Kugel und Schrapnell verschont geblieben zu sein. Er hatte auch Sophies Mutter, Thilde Schüpbach, als sie drei Tage lang in Wehen lag, das Konterfei der Jungfrau in den Mund gesteckt. Als Schluckzettel. Er war sich sicher, dass Sophie nur ihretwegen gesund auf die Welt gekommen war. Thilde allerdings, die an der Geburt gestorben war, hatte die Muttergottes nicht geschützt.

      Hannes sass neben seinem Vater auf dem Kutschbock. Wenn Cornelius Fresendorff auf Sophies Frage antwortete, er sei ein braves Kerlchen, dann wusste sie, dass ihr Zweiter, was dessen schulische Leistungen betraf, nicht danach strebte, mit seinem älteren Bruder Schritt zu halten oder ihn gar zu übertreffen. Seine Interessen waren anderer Art. Er trieb sich in jeder freien Minute in den Ställen und in der Käserei herum. Er vergass die Zeit, wenn er an der Koppel stand und den weidenden Kabardinern zuschaute. Hannes war dabei, wenn man den Stier zur Kuh führte, und sah gespannt zu, wie sie neun Monate darauf kalbte. Er begriff, dass manche Kälblein schon früh geschlachtet werden mussten, da man das Lab aus ihren Mägen für die Herstellung von Käse brauchte. Es machte ihm nichts aus, wenn der Vater die jungen Tiere mit einem raschen Schnitt durch die Kehle tötete, er hielt sogar das grosse Becken unter die klaffende Wunde, um das Blut aufzufangen, aus dem Mayranoush Würste machte.

      Hannes war Simons Lieblingssohn. Manchmal setzte er ihn vor sich aufs Pferd und ritt mit ihm hinaus in die Steppe. «Du bist mein kleiner Stier», sagte er, wenn er den kräftigen, kompakten Körper des Knaben spürte. Mein kleiner Stier: So hatte ihn vor Jahren sein eigener Vater genannt. Manchmal zerzauste er dem Jungen mit verschämter Zärtlichkeit das Blondhaar.

      Kurz hinter Dmanissi versperrten vier berittene Tataren der Kutsche den Weg. Jeder von ihnen trug eine mehr oder weniger zerschlissene Tscherkesska und auf dem Kopf eine riesige, kegelförmige

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