Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger

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Das unsichtbare Netz des Lebens - Martin Grassberger

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Schutzmechanismen durchaus niedrig und das ist meistens gut so. So stehen bei Verzehr einer giftigen Pflanze die geringen Kosten eines einmaligen Erbrechens den unter Umständen hohen Kosten einer potenziell tödlichen Vergiftung gegenüber. In diesem Zusammenhang hat sich auch der Begriff des »Rauchmelder-Prinzips« etabliert. Sind die »Kosten« für den einen oder anderen Fehlalarm geringer als die Kosten bei einem größeren eintretenden Schaden, lohnt es sich auch, bei geringer Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Gefährdung zu reagieren.

      Selbst bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen oder Phobien können wir aus evolutionärer Sicht teilweise auf das Rauchmelder-Prinzip als Erklärungsmodell zurückgreifen. Eine niederschwellige Auslösung einer Angst- und Fluchtreaktion (samt heftiger Adrenalinausschüttung) bei den geringsten Anzeichen einer Gefahr (ein Knacken im Unterholz oder der Anblick einer vermeintlichen Giftschlange) hat unseren Vorfahren mit Sicherheit mehr als einmal das Leben gerettet, auch wenn es sich häufig um Fehlalarme samt kurzer »Panikattacke« handelte. Der Nutzen überwog die Kosten bei Weitem. Fehlalarme sind bei Schutzmechanismen (wie bei echten Rauchmeldern) die Norm und werden aufgrund der geringen Kosten quasi akzeptiert.

      Im Falle der überaus häufigen Angststörungen mit einem offenbar zu sensibel oder fehlerhaft eingestellten »Rauchmelder« überwiegen hingegen die Kosten den Nutzen und führen für die Betroffenen zu großem Leidensdruck und ernsthaften Problemen im Alltag. Eine mögliche Ursache für zu häufige Fehlalarme dürfte in einer Fehlfunktion von verschiedenen Neurotransmittern (Botenstoffe im Gehirn) liegen und möglicherweise auch mit einer Entzündung einhergehen. Beides Faktoren, die, wie ich später ausführen werde, mit unserem Darmtrakt in Verbindung stehen könnten.

      Bei Betrachtung unseres Körpers aus evolutionsmedizinischer Sicht finden wir noch unzählige weitere Eigenschaften, die eine Kompromisslösung darstellen und uns auf diese Weise für viele Gebrechen und Krankheiten anfällig machen. Vermutlich sind, je nach Betrachtungswinkel, die meisten unserer körperlichen Eigenschaften bis zu einem gewissen Grad eine Kompromisslösung. Wir können diese unzähligen Trade-offs als Folge unserer Evolution aber nicht beseitigen, sie sind Teil unserer komplexen Körper geworden.

      Auf der anderen Seite sind die erwähnten, durchaus anfälligen Systeme wunderbare, hochsensible sowie hochkomplexe Einrichtungen, die uns seit Jahrmillionen das tägliche Überleben garantieren. Sie sind vor allem dann für Fehlfunktionen anfällig, wenn es zu einer zunehmenden Diskrepanz zwischen unserem Lebensumfeld und der ursprünglichen Funktion dieser Systeme kommt. Derartige Diskrepanzen werden in der evolutionären Medizin als »Mismatch-Phänomene« bezeichnet.

       Mismatch: die Ursache vieler Krankheitsbilder

      Eine Möglichkeit, ein besseres Verständnis für moderne Krankheitsbilder zu erhalten, besteht darin, zu verstehen, wie unsere Vorfahren gelebt haben könnten, durch evolutionäre Kräfte eine entsprechende genetische Ausstattung erworben haben und wie im Gegensatz dazu unsere moderne Lebenskultur mit unserem früheren Lebensstil zum Teil in erheblichen Konflikt geraten ist.

      Angesichts der Tatsache, dass wir Menschen und unsere homininen Vorfahren mehr als 99 Prozent unserer Existenz als nomadisierende Jäger und Sammler gelebt und überlebt haben, können wir auf Basis gegenwärtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse darauf schließen, dass die Selektion über derart viele Generationen dazu geführt hat, dass unsere Biologie und unser Stoffwechsel recht gut auf die körperliche Aktivität, Lebens- und Ernährungsweise der umherziehenden Jäger und Sammler abgestimmt sind.

      Gerade wir Menschen haben aber in ziemlich kurzer Zeit (zumindest aus evolutionsbiologischer Sicht) unsere Lebensbedingungen und unsere Umgebung grundlegend verändert, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres für jeden sofort erkennbar ist. Diese durchaus als fundamental zu bezeichnenden Veränderungen der nicht allzu fernen Vergangenheit umfassten vor allem die Folgen der landwirtschaftlichen Revolution (beginnend vor etwa 12 000 Jahren), der industriellen Revolution (vor ca. 200 Jahren) mit dem seither ungebremsten technischen Fortschritt (samt zahlreichen Nachteilen für die Umwelt) und zuletzt der digitalen Revolution (seit Ende des 20. Jahrhunderts), die uns zu einem vorwiegend sitzenden Lebensstil vor stets hell leuchtenden Bildschirmen in Form von Fernsehern und Computern »gezwungen« hat.

      Jede einzelne dieser tiefgreifenden Veränderungen hat zu einer mehr oder minder zunehmend ausgeprägten Diskrepanz zwischen unserer ursprünglichen evolutionären Ausstattung und den neu geschaffenen Gegebenheiten geführt. Tatsächlich kann es aus biologischer Sicht für ein einigermaßen spezialisiertes Lebewesen extrem schwierig sein, sich unter mehr oder weniger abrupt ändernden Umweltbedingungen zurechtzufinden bzw. ein »artgerechtes« Leben zu führen.

      Nun ist es zwar nicht so, dass sich unsere heutige Umwelt über Nacht schlagartig etabliert hat, sie unterscheidet sich aber doch beträchtlich von der vor 10 000 Jahren und den vielen Hunderttausenden Jahren davor. Probleme, die sich durch diese fehlende Übereinstimmung zwischen ursprünglicher Ausstattung und neuer Umwelt im weitesten Sinne ergeben, bezeichnet die evolutionäre Medizin als »Mismatch«, also als »Nichtübereinstimmung« bzw. »Inkongruenz«. Mismatch ist von dermaßen großer Bedeutung für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, dass meine Kollegen Peter Gluckman und Mark Manson ein ganzes Buch unter diesem Titel zu den damit verbundenen medizinischen Einsichten verfassten.10

      Sind die konkreten Ursachen für eine Nichtübereinstimmung zwischen Lebensweise und der resultierenden Gesundheitsstörung einmal identifiziert, können entsprechende Gegenmaßnahmen und, noch viel wichtiger, entsprechende Präventionsmaßnahmen getroffen werden.

      Wesentliche Veränderungen, die zu zahlreichen Mismatch-Phänomenen geführt haben, betreffen vor allem unsere Ernährungsgewohnheiten, unseren weitgehend inaktiven Lebensstil, die Verfügbarkeit von zahlreichen Medikamenten, moderne medizinische Eingriffe und Therapiemöglichkeiten, einen fehlenden Kontakt zu einer natürlichen, weil intakten Umwelt bzw. ein zunehmendes Verschwinden von naturbelassenen Habitaten, übertriebene Hygienemaßnahmen, Veränderungen in unserer Gesellschafts- und Familienstruktur, die Exposition gegenüber permanenter Information durch digitale Medien und vieles mehr. Während zwar der tatsächliche Beitrag dieser Veränderungen zu der einen oder anderen Krankheit nicht in absoluten Zahlen gemessen werden kann, so dürfte er, nach allem, was wir bisher wissen, beträchtlich sein und vor allem im Zusammenwirken all dieser Einflussgrößen liegen. Im Folgenden sei nur eine kleine Auswahl der auf Mismatch basierenden oder dadurch mitverursachten Krankheiten und Gesundheitsstörungen dargestellt.

      Die Raten von kardiovaskulären Erkrankungen sind in unserer Gesellschaft vermutlich um eine Größenordnung höher als bei unseren paläolithischen Vorfahren, wie eine Untersuchung an dem weitgehend ursprünglich lebenden Volk der Tsimane aus dem bolivianischen Regenwald nahelegt.11

      Gleiches gilt für die Rate an Brustkrebs. Übergewicht, Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes haben mittlerweile epidemische Ausmaße angenommen.12

      Allergien aller Art, insbesondere bei Kindern, weisen einen exponentiellen Anstieg während der letzten Jahrzehnte auf.13

      Über den Zeitraum der vergangenen 60 Jahre stieg die Allergiehäufigkeit in den westlichen Industriegesellschaften von zwei Prozent auf heute über 30 Prozent Betroffene in der Bevölkerung.

      Ein Medikamentenmissbrauch (v. a. von psychoaktiven Substanzen) in gegenwärtigem Ausmaß war vor der noch nicht lange zurückliegenden Erfindung potenter pharmazeutischer Verbindungen kein gesellschaftliches Problem.14

      Unterschiedliche Formen von Essstörungen sind ebenfalls ein neuzeitliches Phänomen und haben während der letzten Jahrzehnte zugenommen.15

      Die

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