Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger

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Das unsichtbare Netz des Lebens - Martin Grassberger

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kann unter bestimmten Lebens- und Umweltbedingungen aus evolutionärer Sicht dennoch den entscheidenden Vorteil bieten, wenn sie ein Individuum zumindest in ein reproduktives Alter mit entsprechend häufigem Nachwuchs bringt. Ob diese Nahrung sich langfristig negativ auf unsere Gesundheit auswirkt, ist hierbei zunächst völlig sekundär! Die Lebenserfahrung zeigt, dass auch Menschen mit einer miserablen Ernährung und entsprechendem Gesundheitszustand in jüngeren Jahren dennoch beträchtlichen Nachwuchs haben können, solange sie nicht unfruchtbar oder dermaßen schwer krank werden, dass eine Fortpflanzung nicht im Raum steht. Die Rechnung in Form schwerer gesundheitlicher Komplikationen wird ihnen häufig erst Jahrzehnte später, nach erfolgter Reproduktion präsentiert. Ja selbst negative gesundheitliche Folgen in jungen Jahren lassen eine schlechte Ernährung aus evolutionärer Sicht immer noch besser abschneiden als der Hungertod.

      Wir Menschen entwickelten uns im Laufe der Evolution zu einem Omnivoren (Allesfresser), der sein Überleben und seine weltweite Verbreitung der Tatsache verdankt, dass er mit einer relativ breiten Palette von Nahrungsmitteln sein Auslangen finden kann. Ich möchte mich im Verlauf des Buches auf Basis der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf konzentrieren, wie wir trotz unserer zum Teil »mangelhaften« körperlichen Ausstattung unserer stetig ansteigenden Lebenserwartung erheblich mehr gesunde Lebensjahre verleihen können.

      Bisher war von Genen, Evolution und körperlichen Merkmalen die Rede, die mit unserem Gesundheitszustand in Verbindung stehen. Unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit wäre aber alles andere als vollständig, wenn wir die zeitlebens bestehende Möglichkeit zur variablen Interpretation dieses Erbgutes außer Acht ließen.

       Epigenetik

       Die (unterschätzte) Macht der Epigenetik

      Dass alle Eigenschaften eines Lebewesens (Phänotyp) nur von seinen ererbten Genen abhängen (Genotyp), gilt mittlerweile als überholt. Denn sogenannte epigenetische Prozesse bestimmen maßgeblich darüber, ob und in welchem Umfang die Information eines Gens überhaupt abgelesen werden kann (Abbildung 2). Veränderungen an der DNA-Doppelhelix unseres Erbgutes (vor allem durch DNA-Methylierung und Histonmodifikation) sind hierfür die Ursache. Im Kontext dieses Buches ist von besonderer Bedeutung, dass diese epigenetischen Modifikationen (auch als »Epimutationen« bezeichnet), bei denen sich die Buchstabenreihenfolge des DNA-Stranges selbst nicht verändert, eindeutig von Umweltfaktoren abhängig sind und über mehrere Generationen (!) weitergegeben werden können.1 So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass die Ernährungssituation von Großvätern (väterlicherseits) in deren kindlicher Entwicklungsphase mit der Gesamtsterblichkeit und insbesondere mit der Krebssterblichkeit ihrer männlichen Enkelkinder zusammenhängt.2

      Die Ursache für derartige Phänomene mit weitreichender Bedeutung (die Ernährung des Großvaters bestimmt die Lebenserwartung des Enkels) liegt in der epigenetischen Veränderung der großväterlichen Gene in Abhängigkeit von der damaligen Ernährungslage. Im selben Jahr wurde sogar über eine epigenetische Vererbung von Auffälligkeiten frühkindlich traumatisierter Mäuse an deren Nachkommen berichtet, wobei der Effekt sogar noch in der Urenkelgeneration (vierte Generation!) nachweisbar war.3

      Sehr wahrscheinlich können aber auch positive Einflüsse und Erlebnisse der Elterngeneration über epigenetische Mechanismen auf deren Nachkommen vererbt werden. Vor allem die Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft und ihr psychisches Wohlergehen, aber auch akustische Eindrücke wie Musik und eine beruhigende Stimmlage wirken sich auf eine positive epigenetische Prägung des ungeborenen Kindes aus. Die Folgen halten ein Leben lang an und wirken sich sogar auf die Folgegeneration aus! Keine Esoterik, sondern Erkenntnisse der aktuellen epigenetischen Forschung.

      Abbildung 2: Epigenetische Mechanismen werden von unterschiedlichsten Faktoren und Prozessen wie z. B. Embryonalentwicklung, Einflüssen im Kindesalter, Umweltchemikalien, Arzneimittel, Ernährung und Lebensalter beeinflusst. Eine DNA-Methylierung tritt auf, wenn Methylgruppen (aus der Nahrung) an den DNA-Strang binden und dadurch Gene aktivieren oder unterdrücken können. Histone sind Proteine, auf denen die DNA aufgewickelt vorliegt. Modifikationen dieser Histone (Histon-Modifikation) können darüber bestimmen, ob einzelne Gene oder ganze Gengruppen abgelesen (transkribiert) werden können oder nicht. Alle diese Faktoren und Prozesse können sich auf die menschliche Gesundheit auswirken, was unter anderem zu Krebs, Autoimmunerkrankungen, psychischen Störungen oder Diabetes führen kann. (Abbildung: National Institutes of Health 2005, Übersetzung durch den Autor). http://commonfund.nih.gov/epigenomics/figure

      Ebenso aufsehenerregend war die Entdeckung, dass anhaltender väterlicher Stress bei Mäusen über sogenannte microRNAs (kurze, nicht-codierende Fragmente von Nukleinsäuren) in den Spermien an die Nachkommen weitergegeben, also gewissermaßen »vererbt« wurde.4 MicroRNAs und deren Bedeutung für unzählige biologische Phänomene, wie etwa die Entstehung von Krankheiten, sind erst während der letzten Jahre zu einem überaus spannenden Forschungsthema geworden. Wir werden ihnen später noch etwas ausführlicher begegnen. An dieser Stelle können wir jedenfalls festhalten, dass Kinder offenbar das Trauma ihrer Eltern gewissermaßen »empfinden« können, ohne dieses selbst erlebt haben zu müssen. Epigenetische Prozesse sind hierfür die Ursache.

      Unstrittig ist, dass sich epigenetische Prozesse, auch wenn sie noch so gering sind, über Ei- und Samenzellen natürlich auch auf die evolutionäre Entwicklung von Organismen auswirken, auch wenn jahrelang gepredigt wurde, dass dies nur unsere ca. 23 000 Gene vermögen. Epigenetische Prozesse wie DNA-Methylierung, Histon-Modifikation und microRNAs sind die Schnittstelle zu unserer Umwelt, egal ob es sich um emotionale oder (bio)chemische Einflüsse handelt. Die Wissenschaft beginnt deren Bedeutung zunehmend zu verstehen.

      Unsere Gene sind also nicht unser Schicksal, sondern werden von der Umwelt an- und abgeschaltet. Dabei hat nicht nur die materielle Umwelt Bedeutung, sondern zu einem beträchtlichen Anteil auch das soziale Umfeld. Gesundheit und Krankheit können niemals vollständig verstanden werden ohne das psychoemotionale Netzwerk des Homo sapiens. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Epigenetikforschung haben uns gezeigt, dass es vor allem Umwelteinflüsse aller Art sind, die darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang unsere Gene aktiv sind. Es wäre allerdings falsch, zu glauben, dass unsere Gene mit dem Risiko der Entwicklung einer chronischen Krankheit nichts zu tun haben. Sie haben sicher einen Einfluss, allerdings einen viel geringeren, als wir lange dachten.

       DOHaD – Manche Ursprünge von Gesundheit und Krankheit liegen in der frühen Entwicklung

      DOHaD ist die Abkürzung für die englische Bezeichnung Developmental Origins of Health and Disease. Diese medizinische Forschungsrichtung beschäftigt sich in Verbindung mit der Epigenetik mit der Rolle der pränatalen und perinatalen Exposition gegenüber verschiedensten Umweltfaktoren und ihrer späteren Bedeutung für die Entwicklung von Krankheiten im Erwachsenenalter, und dies über Generationen hinweg. Eine große Rolle spielt dabei, neben der Wissenschaft der Epigenetik, das Phänomen der sogenannten Entwicklungsplastizität (englisch: developmental plasticity) von Organismen. Darunter versteht man die Eigenschaft bzw. Fähigkeit von Lebewesen, unter verschiedenen Umweltbedingungen – trotz gleichbleibender genetischer Ausstattung – ihr morphologisches Erscheinungsbild und/oder ihre physischen Eigenschaften individuell an die vorherrschenden Umweltbedingungen anzupassen. Dazu gehören auch Veränderungen der Nervenverbindungen während der Embryonalphase. Während also die Gene gleich bleiben, verläuft die Entwicklung

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