Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger

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Das unsichtbare Netz des Lebens - Martin Grassberger

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Kindheit. Doch das stimmt nicht ganz.

      Die Erkenntnis, dass sich, statistisch gesehen, beispielsweise das Körpergewicht im Alter von einem Jahr umgekehrt proportional zum Risiko einer koronaren Herzkrankheit im Erwachsenenalter verhält, bedeutet nicht, dass es sich um ein unvermeidliches Ereignis handelt. Wie alle bevölkerungsbezogenen epidemiologisch erhobenen Daten handelt es sich um Risiken und Durchschnittswerte auf Populationsebene. Ein geringeres Gewicht zum Zeitpunkt der Geburt oder am ersten Geburtstag verurteilt das Kind nicht automatisch zu einem schlechten Gesundheitszustand als Erwachsener. Lediglich die Wahrscheinlichkeit von Problemen ist größer.

      Wir können die Uhr zwar nicht zurückdrehen und embryonale wie frühkindliche Entwicklungsdefizite rückgängig machen, aber es gibt reichlich Möglichkeiten, um mit Ernährung, einem gesunden Lebensstil und Maßnahmen wie achtsamkeitsbasierter Meditation27 direkt oder über den Umweg unseres Mikrobioms Einfluss auf die epigenetische Programmierung unseres Erbgutes und damit auf die Verwirklichung unseres Krankheitsrisikos zu nehmen. Darüber hinaus bestehen noch weitere eigentlich recht einfache Möglichkeiten, das Epigenom im Laufe des Lebens positiv zu beeinflussen. Ich werde diese Möglichkeiten ausführlich besprechen, da sie ein zentrales Thema dieses Buches sind.

      Es gibt aber leider auch Hinweise auf irreversible Schäden durch frühkindliche Erfahrungen. Untersuchungen an Waisenkindern, die in den 1980er-Jahren während der Ceauşescu-Diktatur in rumänischen Kinderheimen aufwuchsen, zeigten vor allem aufgrund emotionaler Vernachlässigung schwere kognitive Schäden und Verhaltensprobleme, die auch nach der Unterbringung in einer pflegenden Umgebung nicht mehr auf ein normales Niveau zurückgingen. Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren zeigten signifikante bleibende Hirnschäden aufgrund der negativen frühen Lebenserfahrungen.28

      Wir können aber aus DOHaD, ACEs und Epigenetik noch eine weitere Lehre ziehen: Da die sich später negativ auf die Gesundheit auswirkende epigenetische Programmierung vorgeburtlich und in den frühen Lebensabschnitten stattfindet, haben wir die Möglichkeit, die transgenerationale »Vererbung« epigenetischer Programmierung zu durchbrechen oder vielmehr von Anfang an als Eltern und als Gesellschaft positiv zu beeinflussen, indem wir diese neuen Erkenntnisse mit besonderer Sorgfalt auf die Schwangerschaft und die Jahre der Kindheit anwenden.

       Die ersten tausend Tage

      Die ersten tausend Lebenstage – die Zeitspanne zwischen der Empfängnis und dem zweiten Geburtstag – sind der kritische Zeitraum schlechthin, in dem ein beträchtlicher Teil (ca. 50 Prozent, wie wir gesehen haben) von Gesundheit, Wachstum und neurologischer Entwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg »programmiert« wird. Das ist derzeit weitgehender wissenschaftlicher Konsens. Zahlreiche Programme von Non-Profit-Organisationen, von der UNICEF bis zur Gemeindeebene, nennen daher ihre Kampagnen zur Verbesserung der globalen Situation »The first 1000 Days«.

      Besondere Aufmerksamkeit hat neben der richtigen Ernährung der Mutter auch das Stillen erlangt. Aufgrund der nachgewiesenen positiven Auswirkungen des Stillens auf die Gesundheit und das Überleben von Kindern empfehlen führende Gesundheitsverbände, darunter die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die American Academy of Pediatrics (AAP), dass Babys in den ersten sechs Monaten ausschließlich (!) gestillt werden sollten (ohne jegliche Zufütterung). Die WHO empfiehlt zudem, dass Babys selbst bei Zufütterung mindestens 24 Monate lang weiter gestillt werden sollten, da dies sowohl Mutter als auch Kind die größten gesundheitlichen Vorteile bietet. Bisher fehlt allerdings vielen Müttern die oft nötige Unterstützung, um diese Empfehlungen umsetzen zu können. Infolgedessen können sie und ihre Kinder die außergewöhnlichen gesundheitlichen Vorteile des Stillens nicht nutzen. Warum Stillen so außerordentlich wichtig ist und welche erstaunlichen Mechanismen hinter der gesundheitsfördernden Wirkung stehen, werde ich später noch erläutern.

      Und noch eine ganz wichtige Einsicht – die Notwendigkeit zu politischem Handeln – lässt sich aus oben Gesagtem ableiten. Gesellschaftliche und sozioökonomische Ungleichheit bzw. Ungerechtigkeit sind die stärksten allgegenwärtigen Determinanten für eine negative gesundheitliche Entwicklung in jeder menschlichen Gesellschaft auf der Erde. Einfach ausgedrückt, hat ein Kind, das in Armut aufwächst, im Erwachsenenalter eine bedeutend schlechtere Gesundheit als ein Kind, das nicht in Armut aufwächst.29

      In dieser wissenschaftlich begründeten Tatsache liegt – gerade in unserer modernen Gesellschaft – allerdings auch unsere große Chance, den Teufelskreis von Armut und schlechter Gesundheit zu durchbrechen. Die über Jahrzehnte einzusparenden gesellschaftlichen und ökonomischen Kosten wären nämlich enorm. Bereits der berühmte Afroamerikaner Frederick Douglass (1817–1895), ehemaliger Sklave und späterer Schriftsteller, bemerkte: »Es ist einfacher, starke Kinder heranzuziehen, als gebrochene Männer zu reparieren.« Kostengünstiger ist es obendrein.

       Wenn es bereits zu spät ist

      In zahlreichen Fällen ist es allerdings zu spät, um präventive Maßnahmen zu setzen, da der Schaden bereits eingetreten ist. Glücklicherweise kennen wir aber verschiedenste Interventionen und Maßnahmen, um den späteren negativen Gesundheitsfolgen entgegentreten zu können. Die epigenetischen Erbgutmodifikationen einer negativen »Programmierung« sind keinesfalls absolut irreversibel, sondern lassen sich bis zu einem gewissen Grad zeitlebens positiv beeinflussen.

       Gesunde Beziehungen

      Zahlreiche Studien haben die Schutzfunktion einer sicheren emotionalen Bindung zu einer Bezugsperson und ihren positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern gezeigt.30 Umgekehrt hat sich aber auch gezeigt, dass mangelnde soziale Integration und Unterstützung ein größerer Risikofaktor für eine frühere Sterblichkeit im Erwachsenenalter ist als Rauchen, Alkoholkonsum und körperliche Inaktivität.31 Die gute Nachricht ist, dass die positive Schutzwirkung einer frühen sozialen Integration ebenso dosisabhängig ist wie die negativen Gesundheitsfolgen von frühkindlichen Ereignissen.32

       Gesunder Schlaf

      Wie ich später noch ausführlich erläutern werde, sind eine verminderte Schlafdauer und eine schlechte Schlafqualität sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern für zahlreiche Gesundheitsprobleme und Krankheiten bis hin zu einem verfrühten Tod verantwörtlich.33 Es liegt daher nichts näher, als für eine regelmäßige Schlafroutine und ausreichende Schlafdauer bereits ab der frühen Kindheit zu sorgen. So kann das (Vor)Lesen von Büchern und eine Begrenzung der Bildschirmzeit vor dem Schlafengehen erheblich zur Förderung der Schlafhygiene beitragen und im Falle des Vorlesens darüber hinaus die erwähnten sozialen Bindungen stärken sowie die kindliche Entwicklung (Fantasie) anregen.

       Gesunde Ernährung

      Eine dauerhafte stressbedingte Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse und die resultierende Cortisolfreisetzung scheinen eine langfristige Überlebensstrategie des Köpers zu aktivieren. Das bei gestressten Menschen zu beobachtende gesteigerte Bedürfnis nach kalorien- und fettreichen Nahrungsmitteln dürfte aus evolutionärer Sicht dazu dienen, ausreichend Reserven für die nächsten bevorstehenden Stressoren zu haben. Zudem haben viele Menschen gelernt, sich durch Zucker- und Fetthaltiges vermeintlich zu »beruhigen«. Ein Teufelskreis.34

      Stress hat aber nicht nur Einfluss auf unser Ernährungsverhalten, sondern auch eine gesunde Ernährung kann, über die Modulation unseres Darmmikrobioms, umgekehrt die Stressreaktion unseres Körpers

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