Das unsichtbare Netz des Lebens. Martin Grassberger

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Das unsichtbare Netz des Lebens - Martin Grassberger

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Zeit eine wirksame präventivmedizinische Strategie.

      In den 1990er-Jahren führte der britische Epidemiologe David Barker Studien an Personen durch, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in jenen Regionen Englands geboren wurden, in denen detaillierte Geburtsaufzeichnungen geführt wurden (Hertfordshire, Preston und Sheffield). Er konnte einen Zusammenhang zwischen niedrigem Geburtsgewicht (als Ersatzmarker für eine gestörte intrauterine Entwicklung) und koronarer Herzkrankheit, Typ-2-Diabetes und Bluthochdruck bei Erwachsenen nachweisen.17

      Weitere Studien in anderen Ländern untermauerten diese Ergebnisse. Finnische Knaben mit niedrigem Geburtsgewicht erkrankten im Erwachsenenalter ebenfalls häufiger an einer koronaren Herzkrankheit und Typ-2-Diabetes, selbst wenn sie während der ersten fünf Lebensjahre im Wachstum aufholten.18 Erstaunlicherweise konnte über den Entwicklungszustand der Säuglinge sogar deren finanzielles Einkommen 50 Jahre später prognostizierte werden.19

      Auch die Ergebnisse der seit 1958 laufenden British Birth Cohort-Studie belegten, dass negative Situationen im frühen Leben mit einer späteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes, einem signifikant niedrigeren Bildungsniveau und niedrigerem sozioökonomischen Status einhergehen.20

      Möglicherweise fragen Sie sich jetzt, wie viel Ihres Gesundheitszustandes auf negative frühe Umweltfaktoren und Erfahrungen zurückzuführen ist. Diese Frage ist aber schon deshalb nicht leicht zu beantworten, weil auch die Definition von Gesundheit und Krankheit einigermaßen diffus ist. Ein häufig benutztes Instrument, um den Gesundheitszustand erfassen zu können, ist die Selbsteinschätzung in Form standardisierter Fragebögen. Diesbezügliche Untersuchungen anhand der britischen Geburtskohorte ergaben, dass im Alter von 33 Jahren etwa die Hälfte (!) des selbst bewerteten Gesundheitszustandes auf die Einflüsse im frühen Leben zurückgeführt bzw. durch diese vorhergesagt werden können.

      Aus evolutionärer Sicht ist diese beobachtete embryonale bzw. fetale Entwicklungsplastizität recht gut erklärbar. Noch während des Aufenthaltes in der Gebärmutter werden auf Basis von Umweltsignalen die Weichen für das spätere Leben in ebendieser Umwelt gestellt, um mit ihr »besser« zurechtzukommen. »Besser« muss hier aber aus evolutionärer Sicht betrachtet werden und ist keinesfalls gleichzusetzen mit einem besseren Gesundheitszustand als Erwachsener. Wir erinnern uns: Eine positive Selektion im Sinne der Evolution ist zu einem beträchtlichen Teil mit einem Überleben und einer späteren erfolgreichen Reproduktion »um jeden Preis« verbunden und nicht mit Gesundheit im späteren Erwachsenenalter. Ist die Ernährungssituation in utero schlecht oder deuten die Signale auf Probleme hin, dann gibt sich die Natur auch schon mal mit weniger zufrieden und bringt in dieser unsicheren Situation zu kleine, unterernährte Kinder lieber zu früh auf die Welt als gar nicht. Die Information an den Embryo, in eine Mangelumwelt geboren zu werden, führt schließlich auch zu langfristigen Veränderungen in dessen Stoffwechsel und zu einer Verschiebung von überlebenswichtigen Prioritäten, auch wenn diese Umweltsituation später gar nicht angetroffen wird. Im Gegenteil, das Neugeborene findet in unserer Zeit eher eine Welt des kalorischen Überflusses vor. Dass das nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand.

      Es sind die bekannten epigenetischen Faktoren, die unsere Gene instruieren, sich ein- oder auszuschalten. Sie werden von einer Vielzahl von Umweltfaktoren beeinflusst und über Generationen hinweg weitergegeben. Ernährung, Lebensstil, eine unüberschaubare Zahl von Umweltchemikalien, Schadstoffe (wie z. B. erhöhte Feinstaubbelastung), medizinische Faktoren, Arzneimittel, Infektionen und die vielfältigen sozialen Stressoren wirken in ihrem verheerenden Zusammenspiel auf unser Epigenom, um nach erfolgreicher Reproduktion im späteren Leben chronische Krankheiten hervorzurufen.21

      Die exakte Erforschung von Einflüssen in frühen Lebensabschnitten und deren spätere gesundheitlicher Auswirkungen ist alles andere als einfach. Die ideale Methode, um die Auswirkungen auf die Gesundheit von Erwachsenen zu erheben, wäre, Individuen vom Zeitpunkt der Empfängnis an bis zu ihrem Tod zu beobachten und zusätzlich auch noch die nächste Generation zu berücksichtigen. Ein derartiger Ansatz ist, zumindest beim Menschen, fast unmöglich. Dennoch existieren, wie wir gesehen haben, mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Belege für die DOHaD-Hypothese.

       Andere »schlechte« Erfahrungen in der Kindheit

      Adverse Childhood Events (ACEs), was übersetzt so viel wie unerwünschte Kindheitserfahrungen bedeutet, sind Stresserfahrungen oder traumatische Ereignisse wie Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern. Der Begriff bzw. die Abkürzung ACEs wurde 1998 im Zuge der Adverse Childhood Experiences-Study geprägt.22

      Der Grund, warum ich die Studie in diesem Zusammenhang erwähne, ist die traurige Tatsache, dass diese und zahlreiche weitere Studien gezeigt haben, dass natürlich auch Kindheitserfahrungen wie Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung – neben prekären Verhältnissen und mangelhafter Ernährung – zum Teil massive Folgen für die Gesundheit im gesamten weiteren Verlauf des Lebens haben. Sie sind erstens in unserer Gesellschaft häufig und zweitens, dosisabhängig, mit einem schlechteren Gesundheitszustand im späteren Leben verbunden (»umso mehr, desto schwerwiegender die Folgen«). Die erschreckende Folge: Menschen mit sechs oder mehr traumatisierenden Kindheitserfahrungen sterben im Durchschnitt fast 20 Jahre früher als diejenigen ohne ACEs!23

      Eine toxische Stressreaktion, die durch eine chronische Dysregulation des neuroendokrinen Systems und des Immunsystems über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse (HPA) gekennzeichnet ist, führt zu multisystemischen Veränderungen im Körper heranwachsender Kinder. Die konkreten Mechanismen, die zur späteren Entstehung von Krankheiten und einer erheblich verkürzten Lebenszeit führen, liegen auch hier in dauerhaften Veränderungen des Stoffwechsels und vor allem epigenetischen Modifikationen des Erbgutes während sensibler Entwicklungsphasen.24

      Bei Erwachsenen wurde festgestellt, dass derartige Adverse Childhood Events einen starken Dosis-Wirkungs-Zusammenhang mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Lungenerkrankungen, Krebs, Diabetes, Kopfschmerzen, Autoimmunerkrankungen, Schlafstörungen, frühem Tod, Fettleibigkeit, Rauchen, allgemein schlechter Gesundheit und Depressionen, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Angstzuständen, Drogenmissbrauch, sexueller Risikobereitschaft, psychischen Erkrankungen sowie zwischenmenschlicher und gegen sich selbst gerichteter Gewalt aufweisen.25

      Aber auch schon im Kindes- und Jugendalter können sich die negativen Folgen manifestieren. So konnten zahlreiche Studien toxischen kindlichen Stress mit Asthma, wiederkehrenden Infektionen, kognitiven Einschränkungen, Entwicklungsverzögerungen, Fettleibigkeit, Gedeih- und Schlafstörungen, kriminellem Verhalten und häufigen körperlichen Auseinandersetzungen in Verbindung bringen.26

      Die Folgen von negativen Kindheitserfahrungen und Mangelernährung sind so vielfältig wie deren mögliche Ursachen. Auch wenn für den Laien eine Verbindung zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter und regelmäßigen Ohrfeigen in der Kindheit nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, so wissen wir heute um deren eindeutigen Zusammenhang und kennen einige der dafür verantwortlichen Mechanismen.

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      Sowohl die Erkenntnisse aus der Epigenetik als auch die dokumentierten Zusammenhänge zwischen den Einflüssen in unserer frühen Entwicklung (und der unserer Mutter) und chronischen Erkrankungen im Erwachsenenalter hinterlassen einen reichlich bitteren Nachgeschmack. Immerhin geht etwa die Hälfte der Gesundheitsprobleme von Erwachsenen auf das Konto von Ereignissen während der frühen Entwicklung und hängen in vielen Fällen mit dem sozioökonomischen Status und seinen Folgen zusammen.

      Es wirkt, als wären wir doch die Opfer, wenn auch nicht primär unseres genetischen Codes,

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