Mein letzter Flug. Franz Fuhmann

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Mein letzter Flug - Franz  Fuhmann

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wie Kronen im heiteren Atem des Kriegsgotts wiegend, laufen sie sich im lässigen Gliederlüften Savannen um Savannen ein, bis sie plötzlich mit einem Ruck ins ungeheure Stampfen des Heerzugs hinüberwechseln: BELLA, und da erzittert die Erde und reißt, und die Krieger wölben die Brust wie einem Himmel den Kugeln entgegen, die ihnen nun aus allen Blockhäusern und Forts der Bleichgesichter entgegenrasen, doch immer herrischer dröhnen die Füße: BELLA BELL BELLAMA, und wenn nun auch das Gras rings rot wird und die Schlünde der berstenden Steppe sich stumm mit Hinabgesunkenen füllen und wieder eben werden und sich erheben und zu Bergen wachsen: BELLA! BELL BELLAMA! BELLA MATSCHE! BELLA MO – o ihr Brüder in der Bläue des Schweigens, o ihr Berge am Weg, o ihr Blumen so rot –, und nun, da der rammende Stoß noch einmal zu neuem Anlauf zurückschnellt, beginnt die Rache zu brodeln: TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI – wehe euch, wehe; so saust es im Brand, ehe die Flamme herausschlägt, so siedet die Kampflust in den Nieren, so duckt sich der Tod zum Sprung, und so schleichen die Seinen: geduckt, hinuntergeduckt ins wandernde Lauern der Beile und Messer, deren Schneiden unhörbar zischen wie Vipern: TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI –

      »Schalawei«, unterbrach uns da der Herr Kaplan, »es heißt schalawei, Buben, nicht tschallawei, so belehrte er uns mit einer geduldigen Freundlichkeit, wie wir sie bisher von ihm, dem vor allem ob seiner Schläge auf die Knöchel und Fingernägel gefürchtetsten aller Lehrer, bisher nicht gekannt hatten, und er blieb auch das zweite Mal noch nachsichtig und war es unbegreiflicherweise selbst dann noch, als er mich Übeltäter mit Namen nannte. Nun hätte ich mich ja nie erdreistet, anders singen zu wollen, als der Kaplan es uns vorgelesen:

      GING GEI

      DALLIMONI DILLIMONI NASSE

      GING GEI

      Gl GING GEI GA

      GING GEI

      DALLIMONI DILLIMONI NASSE

      GING GEI

      Gl GING GEI GA

      BELLA BELL BELLAMA

      BELLA MATSCHE BELLA MO

      BELLA BELL BELLAMA

      BELLA MATSCHE BELLA MO

      SCHALAWEI SCHALAWEI

      SCHALAWEI SCHALAWEI

      WUMBA WUMBA

      WUMBA WUMBA,

      allein als Indianer sang ich dann so selbstverständlich TSCHALLAWEI, daß ich gar nicht gemerkt hatte, falsch zu singen, und als ich nach der Belehrung durch den Herrn Kaplan meine Aufmerksamkeit ganz auf dieses Wort versammelte, platzte ich nach dem verhallenden MO einen halben Schritt zu früh in die Pause, und beim nächsten Mal, als ich auf die Pause achtete, sang ich gegen meinen Vorsatz wieder TSCHALLAWEI. Der Herr Kaplan ließ halten.

      »Warum singst du denn immer so graulich falsch, Pepperl?« fragte er.

      Diese unerwartete Frage an Stelle der längst fälligen Schläge überrumpelte mich, und ich sagte ohne Bedenken: »Weil es tschallawei heißt«, und die Klasse lachte.

      Der Herr Kaplan erwies sich zu unserer Überraschung plötzlich als ein Mann von Witz. »Ha«, sagte er, »schau an, der Peppi kann Indianisch! Da legst dich nieder! Daß der Peppi ein sehr ein gescheites Köpferl hat, wissen wir alle, aber daß er gar Indianisch kann, hab ich nimmer gewußt!« Die Klasse lachte herzlich, genauer gesagt, nur die Jungens der Klasse, denn die Mädchen übten in der Turnhalle einen chinesischen Kirschblütentanz, und man hörte sie manchmal mit ihren dünnen Stimmen etwas wispern, das wie MING MANG MAU PING PANG PAU TSCHING TSCHANG TSCHAU klang und uns derart albern vorkam, daß wir gar nicht mehr darauf achteten. Die Klasse also lachte, und ich nahm es als Zustimmung. Natürlich konnte ich nicht Indianisch, aber daß es TSCHALLAWEI heißen müsse, schien mir so unabdingbar, daß mir darüber weder das Unerhörte meiner Widersetzlichkeit noch das der unheimlichen Güte des Herrn Kaplan bewußt wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich von dem Gefühl erfüllt, vollständig recht zu haben, wie etwa der Ahorn recht hat, wenn seine Blätter gezackt und seine Früchte geflügelt sind, und ich glaubte ganz arglos, daß etwas, was mir derart selbstverständlich erschien, jedem anderen, wenn man es ihm nur sagte, auch so erscheinen müsse. Die Klasse also lachte, und ich nahm es als Zustimmung, doch der Herr Kaplan schüttelte sanft den Kopf. »Es heißt aber schalawei, Pepperl«, sagte er und zog das abgegriffene Büchlein, aus dem er uns den Gesang vorgelesen hatte, aus der Kuttentasche und schlug es auf. Er brachte die an den Ecken graugewetzten Blätter nur mit Mühe voneinander, schließlich aber hielt er nickend inne und hob das aufgeschlagene Büchlein wie die Hostie nach der Wandlung in die Höhe und schwenkte es, obwohl keiner von uns aus dieser Entfernung die Schrift entziffern konnte, langsam im Halbkreis, dann senkte er es wieder in Augenhöhe, räusperte sich und las uns vor. »Hier steht’s, Buben«, sagte er und äugte dabei über das Büchlein hinweg in unsere Mienen, »hier steht’s genau. ›Schalawei, schalawei, schalawei, schalawei‹, und danach ›wumba, wumba, wumba, wumba‹«, so las er Wort um Wort aus dem Drucktext, »lies selbsten, Pepperl!«

      Meine Arglosigkeit war hilflos rein. Ich trat vor, und der Herr Kaplan hielt mir das Buch unter die Nase, und sein Daumennagel unterstrich die fragliche Zeile. Es war ein wulstig-runder, mit paarig abstehenden borstenhaften Härchen besetzter Daumen, sein Nagel war wachsweiß und rosig, und über ihm stand in fettig-verschmierten Buchstaben viermal das Wort SCHALAWEI, und hierhin paßte es genau.

      Ich nickte.

      »Lies laut vor, Pepperl«, sagte der Herr Kaplan. »Schalawei, schalawei, schalawei, schalawei«, las ich ohne Stocken, und dann fügte ich, zu dem nur wenig größeren Lehrer aufsehend, treuherzig hinzu: »Aber tschallawei ist halt viel schöner, Herr Kaplan!«

      Über dem Schulhof leuchtete der bergegesäumte Himmel, und in der Luft war ein Gewoge von Amselschall. Ich erinnere mich nicht mehr, wie sich die Klasse verhielt, da ich sagte, daß TSCHALLAWEI viel tausendmal schöner als SCHALAWEI sei, genauer: ich nahm es wohl schon damals nicht wahr; der Eifer besseren Wissens hatte mich beseelt wie einen Heiligen, der den Schlangen oder einem Regen predigt, allein ich glaube, daß die Klasse nicht atmete. Hingegen weiß ich genau, daß der Herr Kaplan fast bittend sagte: »Aber so steht’s doch gedruckt, Peppi, und der hochwürdige Herr Erzbischof selbsten hat es so gutgeheißen«, und indem er dies sagte, klappte er das Büchlein zu und sah einen Augenblick wie träumerisch durch den graugrünen Einband mit der Weltkugel und dem Kreuz der Leiden, dann schlug er es mir von der Seite her auf den Nasenflügel und sagte dabei ganz leise und gelassen: »Schalawei!«

      »Schalawei«, wiederholte er und schlug mit dem Büchlein auf die andere Seite. Ich fühlte keinen Schmerz, nur ein dumpfes Schwellen und hörte dazu die Stimme mit überwältigender Gleichtönigkeit sagen: »Es heißt schalawei!« Ich fühlte keinen Schmerz, das sagte ich schon, und ich fühlte auch nicht Wut und nicht Trotz und nicht einmal Angst, mich erfüllte nur ein vollkommen traumhaftes Verwundern über den Eintritt etwas gänzlich Unmöglichen, denn daß die Berge am Horizont einstürzten, das konnte wohl sein, sie waren ja alt, und in ihrem Inneren wühlten Gnome, daß die Vögel plötzlich mit Menschenstimme redeten, hatte Siegfried erlebt, warum sollte da nicht auch unsereins es erleben, daß aber SCHALAWEI das Richtige war, das konnte nicht sein, doch der dritte Schlag traf mit dem Buchrücken die Nasenspitze, und während nun der schießende Schmerz die Trümmer des Verwunderns fortriß, duckte der in den Winkel zwischen Backe und Nasenflügel geführte vierte die endlich zum Ausbruch gesammelte Empörung sofort wieder ins Dunkel des Schädels hinunter, und der in den anderen Nasenwinkel fahrende fünfte schließlich zog einen Schleier vor die Berge, und der Amselruf war in den drei Silben verschollen, die mich zugleich mit den Schlägen erschüttert hatten: »Scha!! – la!! – wei!!«

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