Mein letzter Flug. Franz Fuhmann
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Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume
Ich hatte ihn bis zu jenem Tage nicht gesehen, und ich weiß heute, daß ich ihn nie wieder sehen werde. Es hatte geklingelt; es war ein Uhr mittags, und es hatte geklingelt, wie es um diese Zeit immer zu klingeln pflegte. Ich wollte aus der Bibliothek, wo ich nach den mir streng verbotenen und vor mir auch ängstlich verwahrten anatomischen Büchern meines Vaters gestöbert hatte, zur Korridortür schlendern (früher war ich geeilt, aber nun, nach einem halben Jahr meines Amtes, schlenderte ich nur noch), da fiel mir ein, daß ich ja heute nicht öffnen durfte. Ich war allein in der Wohnung; Mutter war mit dem Dienstmädchen und der Sprechstundenhilfe ins nächste Dorf gegangen, wo es besonders saftige Birnen zu kaufen gab, und Vater war weit weg auf Hausvisiten und würde nicht vor drei Uhr wieder zu Hause sein. Pech gehabt, mein Guter da draußen, ich kann’s nicht ändern!
Ich wollte mich gerade wieder den Regalen zuwenden, da klingelte es abermals, und war das erste Klingeln kurz und zaghaft gewesen wie immer, klingelte es jetzt beharrlich laut. Das hatte ich noch nie erlebt. Bislang waren immer Minuten vergangen, ehe einer dieser Bettler um Essenreste, die sich jeden Mittag bei uns einzufinden pflegten, es wagte, ein zweites Mal zu klingeln, und wenn er es wagte, tippte er noch zaghafter als beim ersten Mal auf den Knopf. Plötzlich ärgerte mich das Verbot, jemandem zu öffnen, wenn ich allein war. Was sollte geschehen? Schließlich war ich zehn Jahre alt und würde nächsten Herbst aufs Gymnasium kommen!
Ich trat in den Korridor und sah vor der Mattglasfüllung der Treppentür schattenhaft eine schmale Gestalt. Wer mochte das sein? Plötzlich ärgerten mich alle diese Verbote: das Verbot, mit den Nachbarskindern zu spielen, weil ihre Eltern nur Fabrikarbeiter waren und noch dazu sonntags nie in die Kirche gingen; das Verbot, mich schmutzig zu machen und, wie alle anderen Kinder, die freilich geflickte Kleidung trugen, zur Schneeschmelze auf dem Hosenboden den Berghang hinunterzurutschen; das Verbot, den Leierkastenmann auf seinem Weg durchs langgestreckte Städtchen zu begleiten; das Verbot, die Bücher meines Vaters durchzublättern; das Verbot, mit dem einen, wie sehr man ihn auch mochte, zu sprechen und einem anderen, den man verabscheute, unfreundlich zu begegnen, und vor allem natürlich das Verbot, heute abend der Eröffnung des ersten Kinos der Stadt beizuwohnen, wo nach einer Festansprache meines Vaters, des Vorsitzenden des städtischen Bildungsvereins, der Film »Die Insel der Träume« gezeigt werden würde. Die Insel der Träume – und ich, der ich Träume wie Märchen liebte, dermaßen, daß sie mich auch tags überfielen, ich sollte sie nicht betreten dürfen? Und ich sollte nicht einmal öffnen dürfen, wenn es klingelte und ich allein war? Zum Teufel, ich durfte, ich war ja schließlich zehn Jahre alt und würde nächsten Herbst aufs Gymnasium gehen.
Plötzlich – es geschah dies alles in Sekundenschnelle –, plötzlich haßte ich auch mein Amt, den klingelnden Bettlern die Korridortür zu öffnen, sie auf der Treppenstufe Platz nehmen zu heißen und ihnen nach meinem Ermessen einen Teller mit Suppe oder eine Portion Kartoffelbrei oder Knödelscheiben mit etwas Soße oder sonstige Überbleibsel des Mittagessens auf die Knie zu stellen und ihnen, die sofort hungrig zu schlürfen und schlingen begannen, einen guten Appetit zu wünschen. Es war dies mein Amt seit einem halben Jahr, und mein Vater hatte es mir, dem faulen Schüler, übertragen, damit ich mit eigenen Augen sähe, auf welcher Stufe, wörtlich genommen (und diese hier war die achtzehnte Stufe vom Hausflur unten zum Korridor oben, und sie war, wie die ganze Treppe, mit einem braungelben, liliengemusterten, schon ziemlich abgewetzten Stoff überspannt) – auf welcher Stufe also Menschen landeten, die nichts Ordentliches gelernt hatten und darum im Leben nichts taugen konnten. Anfangs hatte ich dies Amt geliebt und voll Eifer versehen. Nun haßte ich es.
Es hatte das dritte Mal geklingelt, und nun eilte ich zur Tür, und da ich hineilte, wünschte ich, daß nun ein Abenteuer ohnegleichen geschehe, daß ein orientalisches Märchen in meinen eintönigen, von Ver- und Geboten der Standesgemäßheit wie von unübersteigbaren Mauern umzirkten engen Alltag breche und Harun al Raschid vor der Tür stehe oder Ali Baba mit dem Schlüssel zum Sesam oder gar Sindbad der Seefahrer, um mit mir nach der Insel der Träume zu segeln – warum denn nicht, es konnte doch möglich sein? Ich packte die Klinke, da fiel mir ein, daß mein Vater mir oftmals warnend gesagt hatte, es gebe böse Menschen, die sich an Kindern vergingen, doch ich hatte mir nie etwas darunter vorstellen können. Was sollte das heißen: sich an Kindern vergehen? Plötzlich wünschte ich einen Augenblick lang, ein Mörder trete über die Schwelle. Ich dürstete nach dem Abenteuer. Ich würde ihn schon bändigen. Ich war ja zehn Jahre alt und würde nächsten Herbst aufs Gymnasium kommen.
Da ich die Tür aufriß, sah ich, zunächst maßlos enttäuscht, daß er fast genauso aussah wie alle Männer, die bei uns mittags zu klingeln pflegten: schlecht rasiert, aber sauber gewaschen (oh, das erkannte ich nun auf den ersten Blick), in einem Anzug steckend, der sich bemühte, korrekt auszusehen, obwohl er an den Ärmeln, am Knie, an den Rocktaschen und sicher auch am Gesäß gestopft war, den Kopf gebeugt, die Augen auf die schmutziggrauen, an der Spitze aufgespaltenen Schuhe gerichtet und aus dieser Gebärde der Demut schamvoll leise die Worte stammelnd: »Ich wollte nur fragen, ob vielleicht Reste vom Mittagessen übriggeblieben sind, junger Herr?« – Der da vor mir stand, war unrasiert, aber sauber gewaschen; sein Anzug war an den Ärmeln, am Knie, an den Rocktaschen und sicher auch am Gesäß gestopft; seine schmutziggrauen Schuhe waren an der Spitze bleckend gespalten, aber sein Kopf war nicht gesenkt, und statt auf seine bleckenden Schuhspitzen sah er mir gerade ins Auge, und das verwirrte mich.
Ich trat einen Schritt zurück.
»Ich möchte bitt schön Ihren Herrn Vater sprechen, junger Herr«, sagte er zu mir und setzte, was kein anderer gewagt hätte, den Fuß auf die Schwelle.
»Da müssen Sie schon in die Sprechstunde gehen«, erwiderte ich, »die Praxis ist im Erdgeschoß, und die Sprechstunde beginnt um drei, aber heute kommen nur Vorbestellte dran!«
»Ich muß Ihren gnädigen Herrn Vater privat sprechen, junger Herr«, sagte der Mann und trat in den Korridor.
Nun erschrak ich doch.
»Vater ist vor drei Uhr nicht zurück«, sagte ich und fühlte sofort, daß es eine entsetzliche Dummheit gewesen war, was ich da gesagt hatte. Plötzlich hatte ich Angst wie noch nie zuvor; es war die Angst des verirrten Knaben im Wald, da der Wolf erscheint und der Jäger fern ist. Der Mann schloß hinter sich die Tür; ihre Angeln knirschten leise, da er sie zuzog, und dieses Knirschen zersägte meinen Magen und meine Milz. Mir wurde übel. Das Schloß schnappte ein, so schnappt das Schloß in der Kammer des Menschenfressers. Wir waren allein: er und ich und ringsum taube Wände. Plötzlich verstand ich das Verbot, einem Fremden zu öffnen, wenn außer mir niemand mit im Hause war. Der Mann kam auf mich zu – was fletschst du so die Zähne, Mann; was hast du für große Augen, Mann, was hast du für Krallen an den Händen, Mann –, und der Mann kam auf mich zu; ich wich zurück, und der Mann kam mir nach und stand schon vor der Tür des einzigen Zimmers, von dem aus ich auf die Straße um Hilfe hätte rufen können und an dem ich Blödling vorbeigelaufen war. Alle anderen Fenster, die mir nun noch erreichbar waren, führten auf den Hof oder in den Garten, und die lagen ein Stockwerk tief, und dort war kein Mensch. Plötzlich spürte ich, was ich noch nie gespürt hatte: das Tosen meines Herzens. Ich wich, mit den Sohlen den Boden schleifend, zur Küchentür am Ende des Korridors zurück. Der Mann folgte mir. Der Korridor war mit einem Mal so kurz wie mein Atem.
Wuchs denn noch immer kein diamantener Wall zwischen ihm und mir? Kam mir denn immer noch kein Cherub mit flammendem Schwert zu Hilfe? Von der Magengrube drang schmerzhaft etwas Sperriges und Schweres die Kehle höher und höher und begann würgend meinen Schlund zu füllen.
Ich schluckte und keuchte.
»Ich kann Ihnen Schweinebraten mit Kraut und Knödel