Nietzsche aus Frankreich. Jacques Derrida

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Nietzsche aus Frankreich - Jacques  Derrida

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Bewußtsein gibt es nur zwei Wege, entweder zu schweigen oder es auszusprechen; entweder nichts zu tun oder so zu handeln, daß der alltäglichen Atmosphäre der Charakter der zu sich selbst zurückgekehrten Existenz aufgeprägt wird; entweder in der Existenz sich zu verirren oder aber sie zu reproduzieren.

      Dies Unlehrbare hat er sogleich in seiner Einsamkeit, in der Form seiner Idiosynkrasien erreicht – das heißt, indem er sich selbst beschrieb als einen Genesenden, der am ungelösten Nihilismus seiner Epoche litt, und als er diesen Nihilismus – bis zur Affirmation des Begriffs fatum – aufgelöst hatte, konnte er den Grund der als zufällig gelebten Existenz selbst ergreifen, das heißt als Existenz, die, in seinem Falle, zufällig Nietzsche hieß; und also auch die Wendigkeit, diese zufällige Situation (fortuite) als sein eigenes glückliches Geschick (fortune) – wie der Sinn dieses Wortes selber es will – anzuerkennen; was auf eine Entscheidung zugunsten der Existenz des Universums hinausläuft, das kein andres Ziel hat als dies, zu sein was es ist.

      Diese Annahme der Existenz, die nichts andres ist als die Annahme der Ewigkeit, erkennt Nietzsche in den Gleichnisbildern der Kunst und der Religion wieder, und er sieht auch, daß diese selbe Weise ihrer Annahme von der wissenschaftlichen Tätigkeit unablässig negiert wird, die die Existenz in ihren greifbaren Formen erkundet, um eine praktische und erträgliche Welt zu konstruieren. Nietzsche fühlt sich mit beiden Haltungen gegenüber der Existenz solidarisch, der des Gleichnisbildes und der der Wissenschaft, die erklärt fiat veritas pereat vita.

       Und so kommt er dazu, in die Wissenschaft das Gleichnisbild und ins Gleichnis die Wissenschaft zu setzen: so daß der Gelehrte sich sagen könnte: »Qualis artifex pereo!«

      Nietzsche ist einer unerklärlichen Enthüllung der Existenz verfallen, die sich nicht anders als durch den Gesang und das Bild ausdrücken läßt. In ihm entspinnt sich ein Kampf zwischen Dichter und Wissenschaftler, zwischen Seher und Moralist, in dem der eine den andren, indem er seine Rolle übernimmt, zu disqualifizieren sucht. Entfacht wird dieser Kampf durch das Gefühl moralischer Verantwortung gegenüber den Zeitgenossen; die verschiedenen Tendenzen, die verschiedenen Haltungen, die sich Nietzsches Bewußtsein streitig machen, dauern an, bis sich ein kapitales Ereignis einstellt: Nietzsche entäußert sich in einer Figur, einer wahrhaften dramatis persona: Zarathustra, eine Figur, die nicht bloßes Produkt einer fiktiven Verdopplung ist, sondern gewissermaßen eine Herausforderung des Sehers Nietzsche an den Professor und Gelehrten Nietzsche. Die Funktion dieser Figur ist komplex: einerseits ist sie Christus, wie Nietzsche ihn insgeheim und eifersüchtig versteht, aber andrerseits, als Ankläger des traditionellen Christus, bereitet sie den Weg für die Ankunft des Dionysos philosophos.

      Die Jahre der Entstehung des Zarathustra, doch vor allem die, die seiner Geburt folgten, waren für Nietzsche ein Notstand ohnegleichen. Man büßt es teuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. – Es gibt etwas, das ich die rancune des Großen nenne: alles Große, ein Werk, eine Tat, wendet sich, einmal vollbracht, unverzüglich gegen den, der sie tat. Eben damit, daß er sie tat, ist er nunmehr schwach – er hält seine Tat nicht mehr aus, er sieht ihr nicht mehr ins Gesicht. Etwas hinter sich zu haben, das man nie wollen durfte, etwas worin der Knoten im Schicksal der Menschheit eingeknüpft ist – und es nunmehr auf sich haben! … Es zerdrückt beinahe…

      Zarathustra war, wohlgemerkt, in den früheren Werken bereits angelegt; doch es ist nicht nur die Schöpfung, die Präsenz der unaussprechlichen Gesänge der Dichtung, was für Nietzsches Leben wichtig ist; was fortan eine determinierende Kraft bekommt, ist die mehr oder weniger große Identifikation Nietzsches mit dieser Physiognomie, die für ihn eine Art Versprechen, eine Auferstehung, eine Himmelfahrt darstellt: Zarathustra ist gleichsam der Stern, zu dem Nietzsche bloß der Satellit ist; besser noch: Nietzsche bleibt, nachdem er den Triumphweg für Zarathustra gebahnt hat, hinter seiner auf dem Weg eines siegreichen Rückzugs aufgegebenen Position zurück. Wie er selbst sagt, er muß seine Schöpfung teuer büßen: Zarathustra stellt Nietzsches Unsterblichkeit dar, diese Unsterblichkeit, für die man mehrere Male bei Lebzeiten stirbt. Sobald Nietzsche von sich selbst Zarathustra zu unterscheiden vermag und ihm derart als einer höheren, aber noch unerreichbaren Realität begegnen kann, verschwindet am Ausgang der göttlichen Fabel mit der wahren Welt auch die scheinbare Welt, die in sechs Tagen geschaffen wurde: denn in sechs Tagen ist die wahre Welt wieder zur Fabel geworden. Nietzsche wirft einen Blick zurück auf die Refabularisierung der wahren Welt, wie sie in sechs Tagen oder Zeitabschnitten, die die Umkehr der sechs Schöpfungstage darstellen, verschwindet. Es ist dies Verschwinden, das er in der Götzen-Dämmerung nachzeichnet, in einem Aphorismus mit dem Titel: Wie die »wahre Welt« endlich zur Fabel wurde.

      Hier der Text, dessen Untertitel »Geschichte eines Irrtums« lautet:

      »1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie.

      (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ›Ich, Plato, bin die Wahrheit‹.)

      2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (›für den Sünder, der Buße tut‹).

      (Fortschritt der Idee: sie wird feiner, verfänglicher, unfaßlicher – sie wird Weib, sie wird christlich…)

      3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ.

      (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch).

      4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten?…

      (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)

      5. Die ›wahre Welt‹ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal verpflichtend – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!

      (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröte Platos; Teufelslärm aller freien Geister.)

      6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht?… Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!

      (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)«

      Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft; wo die wahre Welt (die platonische, christliche, spiritualistische, idealistische, transzendente), die als Bezugspunkt der scheinbaren diente, verschwunden ist, verschwindet auch die scheinbare; es ist nicht so, daß die Welt aus der erscheinenden, die sie war, zur realen Welt des wissenschaftlichen Positivismus werden könnte; die Welt wird zur Fabel; die Welt, wie sie ist, ist nichts als Fabel: Fabel bedeutet etwas, das erzählt wird und das allein in der Erzählung existiert; die Welt ist etwas, das erzählt wird, ein erzähltes Ereignis und folglich eine Interpretation: die Religion, die Kunst, die Wissenschaft, die Geschichte – ebenso viele verschiedene Interpretationen der Welt, oder besser: ebenso viele Varianten der Fabel.

      Soll das heißen, daß wir es hier mit einem universellen Illusionismus zu tun haben? Keinesfalls. Die Fabel, so hab’ ich gesagt, ist ein erzähltes Ereignis, es geschieht oder es muß etwas geschehen sein: und in der Tat, eine Handlung rollt ab und erzählt sich von selbst, doch wenn man sich nicht beschiede zu hören und zu folgen und wenn man sie noch einmal durchzugehen suchte, um zu erkennen,

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