Greta und das Wunder von Gent. Katja Pelzer

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Greta und das Wunder von Gent - Katja Pelzer

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ihm. Daniels Herz schlug noch. Fahrig bettete Greta ihn auf den Bootsboden, stellte seine Beine auf, weil sie das mal so gelernt zu haben glaubte, und rief schluchzend den Notarzt an. Dann versuchte sie mit zitternden Händen, das Boot wieder auf Kurs zu bringen. Dabei stolperte sie in ihrer Panik über Daniels Beine und stieß sich den Kopf am Baum. Benommen sackte sie neben Daniel auf den Boden und schluchzte, den Kopf auf seiner Brust, „Bleib bei mir. Bitte!“ Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass jede Minute zählte. Sie ging die einzelnen Schritte durch, indem sie laut mit sich selbst sprach. Plötzlich war alles von einer übernatürlichen Klarheit. Sie befestigte die Schoten der Fock so, dass sie sich nur noch auf das Großsegel konzentrieren musste. Pinne und Schoten hielt sie mit rechts. Mit der linken Hand streichelte sie immer wieder über Daniels Kopf zu ihren Füßen, der bald ganz nass war von ihren Tränen.

      Im Nachhinein wusste Greta nicht, wie sie es geschafft hatte, das Boot in den Hafen zu bringen. Die Welt hatte hinter einem Schleier gelegen. Als sie anlandeten, hatte die Ambulanz bereits mit Blaulicht auf sie gewartet. Daniels Herz schlug noch. Doch auf dem Weg ins Krankenhaus blieb es stehen.

      Greta hatte vor der Klinik gestanden. Sie hatte am ganzen Leib gezittert. Das Salz ihrer Tränen hatte alle Kraft aus ihr herausgewaschen. Die Beruhigungstabletten, die der Arzt ihr geben wollte, hatte sie abgelehnt. Sie hatte zu viel Schlimmes darüber gelesen. Sie konnte sich jedoch auch nicht vorstellen, alleine ins Auto zu steigen und nach Hause zu fahren. Sie rief Miriam an und bat sie, zu ihr nach Bayern zu kommen. Erst dann hatte sie Daniels Eltern benachrichtigt. Die Mutter war ans Telefon gegangen und hatte mit tränenerstickter Stimme nach ihrem Mann gerufen, bevor sie Greta wegdrückte.

      Der Weg vom Krankenhaus zu Fuß zurück ins Hotel schien Greta voller unsichtbarer Hindernisse, um die sie herumstolperte. Endlich in ihrem Zimmer fiel sie schluchzend auf das Bett und in die Bodenlosigkeit. Hätte sie etwas tun können, um Daniel zu retten? War die Bootsfahrt zu anstrengend für ihn gewesen? Würde er noch leben, wenn sie an Land gewesen wären? Sie schneller an Land gekommen wären? Der Wind stärker geweht hätte? Sie nicht so umständlich, so ungeschickt wäre? Irgendwann war sie von den eigenen Gedanken so erschöpft gewesen, dass der Schlaf leichtes Spiel mit ihr hatte und sie in seine barmherzige Tiefe zog.

      Als sie aufwachte, war es dunkel. Miriam saß neben ihr auf dem Bett, das Greta noch bis zum Morgen mit Daniel geteilt hatte. Sie strich ihr die von Tränensalz verklebten Haare aus dem feuchten geröteten Gesicht. „Es tut mir so leid“, sagte sie. Greta hatte gerade noch die Kraft gehabt, still zu nicken. Sie fühlte sich wie gelähmt.

      Am nächsten Tag war Greta aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen, war mit Miriam hinuntergegangen in den Frühstücksraum und hatte nichts heruntergebracht außer einer Kanne grünen Tees.

      „Du musst etwas essen“, hatte Miriam gesagt. Sie hatte für Greta ein Brötchen mit Butter und Honig geschmiert. Dann hatte sie es in mundgerechte Stücke zerteilt und ihr hingeschoben. Es war als blockierten die Tatsachen ihr die Speiseröhre. Als hätte sie schon einen großen Teller Wiener Schnitzel mit Pommes frites gegessen wie noch vor zwei Tagen gemeinsam mit Daniel. Ihre Wirbelsäule war zu schwach gewesen, ihren gedankenschweren Kopf zu halten. Er war nach vorne gekippt neben den Teller mit dem Honigbrötchen und riss die ganze Greta mit sich. Weinend ergab sie sich. Wieder strich Miriams Hand ihr über den Kopf. Doch die tröstliche Geste enthielt keinen Trost. Nie wieder würde sie Trost empfinden. Nie wieder würde sie sich glücklich schätzen, am Leben zu sein. Sie wollte nicht ohne Daniel auf der Welt sein. Sie wollte mit ihm gehen. Es war ihr egal, wohin.

      Miriam half Greta, die Überführung des Leichnams nach Düsseldorf zu organisieren. Dann setzte sie sich an das Steuer von Gretas kleinem Wagen und fuhr sie zurück nach Hause. Sie schleppte ihr den Koffer die Treppe hinauf und schloss die Türe für sie auf.

      Als Greta ihre Wohnung betrat, war sie des letzten Restes Hoffnung beraubt worden. Auch hier war kein Daniel mehr. Es war vorbei. Das Leben war zu Ende.

      Drei Tage später stand Greta, gestützt von Miriam und Tante Mia, am Abgrund eines Erdlochs, über dem Daniels schwerer Sarg zu schweben schien. Sie war umgeben von Daniels Freunden und Familie und deren Trauer. Dennoch fühlte sie sich vollkommen allein.

      Als sein bester Freund aus Kindertagen in der kahlen Friedhofskapelle ans Mikrofon trat und eine kurze Rede hielt, die er mit der Frage beendete: „Mit wem soll ich jetzt das Unmögliche träumen?“, löste sich Gretas Existenz in Tränen auf, obwohl sie gedacht hatte, keine mehr übrig zu haben.

      In diesem Moment, an dieser Stelle kündigte Greta ihrem Leben die Verbundenheit auf, die sie an Daniels Seite empfunden hatte. Sie legte ihre Träume zu ihm ins Grab.

      Alles war Greta mit Daniel möglich erschienen. Sie hatte geglaubt, am Anfang einer Beziehung zu stehen, die der Symbiose ihrer Eltern eines Tages nahe kommen würde. Durch Daniel war Greta nicht länger die Beobachterin gewesen. Doch erst jetzt wusste sie, was es hieß, wenn einem der wichtigste Mensch genommen wurde. Dieser einer Amputation gleichkommende Verlust. Die Stille danach. Die Leere. Schon morgens war sie so erschöpft, als hätte sie in der Nacht einen Acker umgepflügt. Trotz ihrer Erschöpfung stand sie morgens auf, sie duschte und zog sich an. Sie erzählte sich, dass das Leben weitergehen würde. Aber sie glaubte sich nicht. Sie ging einkaufen und kochte sich etwas zu essen. Sie redete sich gut zu, aß ein Drittel und war dann satt. Sie brach in Tränen aus, weil sie keinen Appetit mehr hatte. Auf nichts. Am allerwenigsten auf das Leben. Plötzlich verstand sie, was ihre Mutter durchgemacht haben musste. Sie verlor ein Kilo nach dem anderen. Schon vorher dünn, magerte sie nun zusehends ab.

      Miriam schaute Greta zwei Wochen dabei zu. Dann machte sie ihr einen Termin bei ihrer Hausärztin. Diese schrieb Greta für einen Monat krank und überwies sie an eine Psychotherapeutin. Dort ging sie in den ersten beiden Wochen alle zwei Tage hin. Später dann noch einmal in der Woche. Dabei blieb es für das nächste Dreivierteljahr.

      Das Erste, was die Therapeutin Greta fragte, war: „Sagt Ihnen das Wort Magersucht etwas?“ Natürlich sagte Greta das Wort etwas, doch sie wies es müde, und weit von sich. Sie hatte einfach keinen Hunger. Die Therapeutin sah sie daraufhin freundlich, aber fest an und sagte: „Sie sind nur für sich selbst verantwortlich.“

      Später gab die Psychotherapeutin Greta Hausaufgaben auf. Eine Aufgabe lautete: „Überlegen Sie sich, was Ihnen gut tut, nur Ihnen, ganz unabhängig von Ihrer Beziehung.“

      „Die Sonne, der Himmel, die Sterne, der Rhein“, schrieb Greta als Antwort in das dafür vorgesehene Heft.

      Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass es hilfreich war, in schweren Zeiten an einem Fluss entlangzugehen – mit dem Strom. Symbolisch trug dieser alle Lasten mit sich fort.

      Greta begann damit, an einem Tag, an dem die Sonne sie weckte. Und irgendwann wurde Gehen für sie zur Notwendigkeit. Sie ging und ging. Kilometerweit. An freien Tagen ließ sie sich vom Rhein an die Hand nehmen, folgte seinem Lauf, seinen Schlaufen, seinen Geraden. Sah graue Steinbrocken wie Nilpferde ab- und wieder auftauchen, je nach Hoch- oder Niedrigwasser. Den Groll über ihr Schicksal, ihre Angst vor dem, was kam, und die Schatten, die das Universum auf ihr Gemüt warf, lud sie auf den Rheinschnellen ab, indem sie den einen oder anderen Stein hineinwarf.

      Als Kind hatte Greta sich nichts Langweiligeres vorstellen können, als um des Gehens willen herumzulaufen. Der Sonntagsspaziergang dehnte die typische Leere dieses Tages zusätzlich in die Länge.

      Spaziergänge mit der Familie waren nur erträglich gewesen, wenn die Großtante dabei gewesen war. Sie hatte Greta an die Hand genommen. Zusammen waren sie gehüpft, bis eine von ihnen außer Atem kam. Die Großtante hatte es ihr vorgemacht: „Und eins, und zwei, und drei und vier. Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm. Und vorwärts rückwärts seitwärts rein.“ Und wieder von vorne. Oder sie spielten „Ich sehe was, was du nicht

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