Die Glasbrecherin. Irene Euler
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Sein Bruder schüttelte den Kopf und führte in flinker Geste Daumen und Zeigefinger zusammen.
Oredion stand auf. „Hol mir einen der Krankenpfleger, damit er Armschienen und Verbandsmaterial zurecht legt.“
Während Kelroy davonstiefelte, wandte Oredion sich wieder an Erdree: „Ich werde mir später alles durch den Kopf gehen lassen, was du mir erzählt hast. Danach werde ich eine Medizin für dich zusammenstellen, damit du ein wenig widerstandsfähiger wirst – und stark genug für deinen Dienst. Auf jeden Fall wirst du noch hier im Krankenquartier bleiben, bis du absolut fieberfrei bist und bis die Schmerzen in deiner Brust verschwunden sind. Und auch nachdem du deinen Dienst auf Glynwerk angetreten hast, werde ich dich regelmäßig untersuchen.“
Oredion eilte hinaus und schloss die Tür hinter sich. Erdree rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Vergeblich versuchte sie, der Schicksalsergebenheit nahezukommen. Zu viele zwiespältige Gefühle zerrten an ihr. Oredion zweifelte nicht daran, dass sie ihren Dienst antreten würde. Das war mehr als sie während der langen Stunden im Reisewagen zu hoffen gewagt hatte. Und sie konnte es immer noch nicht glauben. Im Wagen hatte sie nur sitzen müssen und war trotzdem schwer krank geworden. Dienen hieß etwas ganz anderes als herumsitzen. Niemand außer Oredion glaubte, dass sie wirklich dienen konnte. Jeder entsetzte Blick sprach Bände. Musste sie wirklich noch beweisen, dass sie die erste Hoffnung, die jemals in die Glasbrecher gesetzt worden war, enttäuschen würde? Dass die Linländer nicht das Geringste von den nutzlosen Glasbrechern erwarten durften?
IV
Nachdem sie einen Tag lang fieberfrei gewesen war, erlaubte Oredion seiner Patientin, für einige Stunden ihr Bett zu verlassen. Erdree schob einen Sessel an das Fenster ihres Krankenzimmers und kauerte sich hinein. Das Krankenquartier lag hoch im Festungsbau. Wenn Erdree gerade hinausblickte, sah sie die dunklen, schneebestäubten Nadelbäume des Glynwalds. Wenn sie sich ein wenig vorbeugte, konnte sie die Soldaten im Hof vor den Ställen beobachten. Den Wald betrachtete Erdree lieber, obwohl er ebenso oft bedrohlich aussah wie erhaben. Das Gewimmel der Soldaten erinnerte sie zu stark an die lauten, vollen Gasthöfe auf ihrer Reise.
Fünf Tage später blieb das Stechen in Erdrees Brust sogar bei den tiefsten Atemzügen aus. Trotz dieser Besserung und trotz der Medizin, die Oredion für sie zusammengestellt hatte, war Erdree weit davon entfernt, sich so zu fühlen wie früher in Mooresruh. Dort hatte sie sich zwar selten wirklich wohl gefühlt, aber meistens stark genug, um zu arbeiten. Auf Glynwerk machte ihr nun statt des Hustens ständige Übelkeit zu schaffen, und während das Schwächegefühl in ihrem Körper nachließ, begann ihr Nacken zu schmerzen. Erdree wurde immer unruhiger. Sie konnte den Gedanken an den fehlenden Tee aus Schilfwürgerblüten nicht abschütteln. Was, wenn ihre Beschwerden davon kamen? Dennoch wagte sie es nicht, Oredion nochmals danach zu fragen. Er kümmerte sich so sehr um sie, dass es ihr undankbar vorgekommen wäre, auf dieser Kleinigkeit herumzureiten. Sie schämte sich geradezu dafür, unter seiner Fürsorge ständig neue Leiden zu entwickeln. Krampfhaft bemühte sie sich darum, wenigstens ihre Übelkeit vor ihm zu verbergen. Aber ihre Appetitlosigkeit entging Oredion freilich nicht.
„Du musst mehr essen,“ drängte er Erdree freundlich. „Ich habe gehofft, dass ich dich noch ein wenig aufpäppeln kann, bevor du das Krankenquartier verlässt. Aber nun wirst du morgen deinen Dienst antreten, und du bist immer noch viel zu mager. Oft bleibt die Hälfte von deinen Mahlzeiten übrig. Dabei habe ich genau darauf geachtet, dass du gut verträgliches Essen bekommst. Und ich kann kein Anzeichen für irgendeine akute Erkrankung mehr finden. Bedrückt dich etwas?“
Fahrig strich Erdree ihre Bettdecke glatt. Oredions besorgter Blick traf sie tief. Obwohl sie ihn nicht noch mehr beunruhigen wollte, brach ein Flüstern aus ihr hervor: „Mir ist meistens übel. Und mein Nacken tut weh.“
Oredions sanfte Finger tasteten nach ihren Nackenmuskeln. „Kein Wunder. Du bist völlig verspannt. Erdree–“ Oredion setzte sich auf die Bettkante und nahm Erdrees Hand in seine. „Du bist erst seit einigen Tagen hier auf Glynwerk. Du bist immer noch dabei, dich einzugewöhnen. Viel Neues kommt auf dich zu. Ich kann mir gut vorstellen, dass du heute besonders aufgeregt bist – weil du dich morgen bei Generalin Ulante melden sollst. Da bekommt man schon einmal einen flauen Magen und einen verspannten Nacken. Glaub mir – morgen Abend wirst du dich viel besser fühlen. Hab keine Angst. Niemand wird etwas von dir verlangen, was deiner Gesundheit schaden könnte. Schließlich braucht das Heer dich. Ich werde mich auch weiterhin um dich kümmern. Du wirst jeden Morgen hierher ins Krankenquartier kommen, um deine Medizin zu nehmen. Dann kannst du mir auch immer sagen, ob du noch etwas brauchst – und auch sonst jederzeit. Sicher wird dein Leben beim Heer anstrengender werden als in Mooresruh. Aber dafür wirst du auch... Dafür werden auch einige Dinge besser sein als in Mooresruh. Mach dir keine Gedanken. Nimm einen Tag nach dem anderen. Gewöhne dich an das Leben beim Heer, schau, dass du zu Kräften kommst, und komm zu mir, wenn du irgendetwas brauchst.“
Während ihr unsicherer Blick an den ruhigen braunen Augen hing, schöpfte Erdree ein wenig Hoffnung. Zwar herrschte in Oredions Ton immer noch die Bedachtsamkeit über die Überzeugung. Und sie wusste immer noch nicht, welchen Dienst die Generalin von ihr erwartete. Aber sie konnte nun sicher sein, dass Ulante sie nicht gerufen hatte, obwohl sie eine Glasbrecherin war, sondern weil sie eine Glasbrecherin war. Also würde die Generalin Rücksicht auf sie nehmen. Außerdem würde Oredion weiterhin für sie da sein.
„Ich werde dir später einen Tee bringen, der dich heute Nacht besser schlafen lässt. Aber versprich mir, dass du nichts mehr von deinem Essen zurück in die Küche schickst!“ Oredion wartete Erdrees Nicken ab. Dann drückte er nochmals ihre Hand.
Kaum war Oredion aus dem Zimmer verschwunden, traf es Erdree mit voller Wucht: Die Generalin erwartete einen Dienst von ihr, den nur ein Glasbrecher erfüllen konnte! Die Ehre aller Glasbrecher lag auf ihren Schultern!
Gemeinsam mit dem Frühstück für die Glasbrecherin brachte ein Krankenpfleger am nächsten Morgen neue Kleidung. Die Stiefel, die braune Lederhose und das grüne Hemd erinnerten Erdree an Wiralins Uniform. Nur die gepolsterte Lederweste fehlte. Außerdem war ihr Wollmantel nicht schwarz, sondern braun. Widerstrebend schlüpfte Erdree in die fremdartige Kleidung. Die Hose fühlte sich unangenehm steif und schwer an. Umgekehrt fand Erdree das Hemd viel zu dünn und zu leicht. Beides war viel zu groß. Die neue Kleidung schlotterte kaum weniger um ihre magere Gestalt als ihre Kutte es getan hatte. Erdree musste die Ärmel und die Hosenbeine mehrmals umschlagen. Die Kordel ihrer Kutte verwendete sie als Gürtel, damit die Hose nicht über ihre Hüften rutschte. Am meisten Sorge bereiteten ihr jedoch die schweren Stiefel. Ihre Füße waren an weiches, biegsames Schuhwerk gewöhnt. Bei den ersten Schritten kam Erdree sich unglaublich ungeschickt vor. Die Stiefel schienen geradezu am Boden zu kleben! Wollte man den Soldaten das Gehen so schwer wie möglich machen? Damit ihnen beim Gehen warm wurde und sie trotz ihrer dünnen Hemden nicht froren? Erdree fröstelte sogar nachdem sie den Wollmantel umgelegt hatte. Dabei stand sie noch im Krankenquartier, wo bestimmt besser geheizt wurde als anderswo auf der Festung. Unglücklich schleppte sie sich aus ihrem Zimmer in den Behandlungsraum, von wo sie abgeholt werden sollte.
Bei ihrem Anblick hielt Oredion jäh inne. „Das geht nicht,“ sagte er ungewöhnlich rasch. Seine Stirn legte sich in Falten. „Und wieso die Uniform eines Läufer der Bogenschützen...?“
Oredions milder Unmut beunruhigte Erdree. „Was tut denn ein Läufer?“
„Läufer sorgen im Feld dafür, dass die einzelnen Abteilungen des Heers die Verbindung nicht verlieren – sie geben Befehle weiter. Und auch im Lager tragen sie Botschaften und Befehle weiter.“
Erdree