Die Glasbrecherin. Irene Euler
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Glasbrecherin - Irene Euler страница 17
Noch mehr Fragen, die sie nicht zu stellen wagte, begannen in Erdrees Kopf umherzuschwirren. Ulante löschte die beiden Fackeln, die in den Wandhalterungen steckten, und schritt zur Tür. Rasch huschte Erdree hinter ihr hinaus. Kaum war die Tür wieder versperrt, eilte Ulante im Sturmschritt davon. Diesmal versuchte Erdree vergeblich, das Tempo der Generalin zu halten. Zuletzt hielt sie keuchend auf der Wendeltreppe inne. Nach einer Pause nahm sie den Aufstieg viel langsamer in Angriff. Ihre Gedanken waren immer noch bei den glitzernden Fäden, die unter dem Kreischen ihrer Stimme zerfallen waren. Sie mussten aus Glas sein. Konnte man wirklich derart dünnes, feines Glas herstellen? Es schien unmöglich. Aber woher sollte ausgerechnet eine Glasbrecherin etwas darüber wissen – wie viel Glas hatte sie schon im Lauf ihres Lebens gesehen? Ein paar Trinkgefäße und die eine oder andere Fensterscheibe... Ein dumpfes Pochen hinter ihren Schläfen erinnerte Erdree daran, dass heftiges Grübeln ihrer Gesundheit schadete. Gerade jetzt war nur eine Frage wichtig: Was wurde als Nächstes von ihr erwartet? Hatte die Generalin ihr etwas befohlen? Nein. Sie hatte nur gesagt, dass Wiralin für sie verantwortlich sein würde. Und dass sie immer in seiner Nähe bleiben sollte. Der Gedanke an den kalten Blick und an die scharfe Stimme des Obersten Bogens ließ Erdrees Kehle eng werden. Zumindest war nun klar, warum sie die Uniform eines Läufers der Bogenschützen bekommen hatte. Unschlüssig biss Erdree sich auf die Lippen. Erwartete Wiralin, dass sie gleich nach ihrer Begegnung mit der Generalin zu ihm kam? Oder plante er, sie später abzuholen – aus dem Krankenquartier, wo sie bisher gewesen war? Sie wollte Wiralin keinesfalls noch mehr gegen sich aufbringen. Sein Verhalten auf der Reise hatte deutlich genug gezeigt, wie sehr er sie verabscheute. Das Pochen hinter Erdrees Schläfen wurde schneller und stärker. Mit dem Pochen wuchs auch der Wunsch, zu Oredion ins Krankenquartier zurückkehren zu dürfen. Dieser Wunsch wurde übermächtig, als ihr der Blick durch ein kleines Fenster verriet, dass sie nun in jenem Stockwerk angekommen war, in dem das Krankenquartier lag. Sofort bog Erdree in den Gang ein – nur um nach einigen Schritten erneut innezuhalten. Sie musste gleich zu Wiralin gehen. Wenn es ihm missfiel, dass sie zu früh auftauchte, konnte er sie wieder fortschicken. Aber wenn er vergeblich auf sie wartete, würde sein Zorn mit jeder Minute zunehmen. Erdree rieb sich die Augen und seufzte. Im nächsten Moment fiel ihr glühend heiß ein, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie Wiralin suchen sollte. Lag das Quartier des Obersten Bogens in der Nähe der Generalskanzlei oder ganz woanders? Und würde Wiralin zu dieser Tageszeit überhaupt in seinem Quartier sein? So schnell es in den klobigen Stiefeln ging, eilte Erdree zurück ins Krankenquartier. Oredion würde wissen, wo sie Wiralin um diese Stunde finden konnte. Und ob sie ihn tatsächlich aufsuchen sollte. Im Behandlungszimmer blieb Erdree verzweifelt stehen. Der Raum war leer. Vielleicht kümmerte Oredion sich gerade in einem der Krankenzimmer um einen Patienten. Aber sie konnte doch nicht wahllos an Türen klopfen! Nach Oredion zu rufen, war erst recht undenkbar – im Behandlungsraum standen unzählige Fläschchen mit Medizin! Und ein Flüstern würde nicht durch die geschlossenen Türen dringen... Erdree schlug ihre Arme um ihren Körper. Das unheilvolle Bild des Obersten Bogens, der irgendwo auf Glynwerk immer ungeduldiger auf sie wartete, stieg vor ihrem inneren Auge auf. Ein Geräusch in ihrem Rücken ließ Erdree herumfahren. Ihr erschrockener Blick fiel auf Kelroy. Wieder schien er wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Obwohl Erdree nun wusste, dass er Oredions Bruder war, blieb ihr der Mann unheimlich. Aus seiner ausdruckslosen Miene stachen seine Augen beinahe lauernd hervor. Erdree starrte so gebannt auf Kelroys Gesicht, dass sie seine Geste nicht gleich bemerkte. Er hielt die Fläche seiner rechten Hand nach oben gewandt. Mechanisch beantwortete Erdree die stumme Frage mit dem Zeichen für „suchen“ – ihr Finger zog einen Kreis um ihr Auge – dann stockte sie. Sie kannte kein Zeichen für „Oberster Bogen.“ Zum Glück fiel ihr gleich darauf ein, dass Kelroy zwar stumm war, aber nicht taub.
„Ich suche den Obersten Bogen,“ flüsterte sie. „Wiralin. Das heißt – ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich suchen soll. Wisst Ihr vielleicht, ob ich den Obersten Bogen aufsuchen soll, oder ob er mich später holen wird?“
Kelroy schüttelte den Kopf. Nach einer kurzen Pause legte er eine Hand über sein rechtes Auge, deutete auf den Boden und winkte Erdree dann, mitzukommen. Offenbar war Wiralin in einem der unteren Stockwerke zu finden, und Kelroy würde sie zu ihm führen.
Erdree folgte bereits Kelroys stämmiger Gestalt den Gang hinunter, als ihr bewusst wurde, wie mühelos sie sich mit dem Stummen verständigen konnte. Die Fingerzeichen der Glasbrecher wurden anscheinend nicht nur in Mooresruh verwendet. Die stummen Linländer gebrauchten sie ebenfalls. Kelroy führte Erdree einen Stock tiefer und um einige Ecken. Vor einer Tür, an der das grüne, goldbestickte Banner der Bogenschützen hing, blieb er stehen. Mit einer theatralischen Geste wies Kelroy Erdree an, durch die Tür zu schreiten. Viel zu schnell kehrte er ihr den Rücken zu und ging davon. Sie kam nicht einmal mehr dazu, ihm einen Dank hinterherzuflüstern. Was, wenn Wiralin sich doch nicht in seinem Quartier aufhielt? Dann wäre sie hier gestrandet. Erdree hob eine zitternde Hand. Sie hätte nicht sagen können, wovor sie sich mehr fürchtete: Davor, keine Antwort zu erhalten, oder davor, Wiralin wiederzutreffen. Zaghaft klopfte sie an.
„Herein!“ befahl die kalte Stimme des Bogenschützen.
Erdree öffnete die Tür und zerrte ihre bleiernen Füße über die Schwelle. Unter Wiralins Blick fühlte sie sich plötzlich wie ein verprügelter Hund vor seinem Herren. In der schlotternden Uniform bot sie gewiss einen noch jämmerlicheren Anblick als in der Kutte der Glasbrecher. Zumindest schien Wiralin sie erwartet zu haben. Er deutete mit dem Kopf auf eine schmale Tür zu seiner Rechten.
„In dieser Kammer dort drüben wirst du schlafen. Am besten bleibst du auch sonst so viel wie möglich dort. Glaub nicht, dass du mein ständiger Schatten sein wirst! Du wirst ohnehin oft genug mein Schatten sein müssen. Jedenfalls verlässt du das Festungsgebäude nicht allein! Und du wanderst nicht auf eigene Faust im Festungsgebäude herum! Deine einzigen eigenständigen Wege werden zwischen diesem Quartier, dem Speiseraum und dem Krankenquartier verlaufen! Allenfalls noch zu Agotons Quartier! Und wenn wir das Festungsgebäude verlassen, wirst du wirklich zu meinem Schatten: Bleib immer in meiner Nähe, aber rück mir nicht zu dicht auf den Pelz! Verhalte dich still und mach keine Probleme! Ignoriere die Soldaten und nimm Anweisungen nur von mir entgegen – und natürlich von der Generalin. Folge diesen Anweisungen immer sofort und ohne eine Frage. Wenn dir hier im Quartier langweilig sein sollte, lies diese Bücher hier – kannst du lesen?“
Erdree nickte rasch. In Mooresruh gab es zwar nicht viele Bücher, aber sie wurden hoch geschätzt.
„Es sind Bücher über das Heerwesen.“ Wiralin legte eine Hand auf den kleinen Stapel, der auf dem Tisch neben ihm lag. Man sah den dünnen, kleinen Bänden an, dass sie schon oft gelesen worden waren. „Ich würde es begrüßen, wenn du mehr über die Arbeit eines Soldaten weißt – damit du im Feld weißt, worauf es ankommt, und keine Schwierigkeiten machst. Im Feld können die Soldaten keine Rücksicht nehmen – auch nicht auf eine Glasbrecherin. Lern, die Zähne zusammenzubeißen! Das schont nicht zuletzt Fensterscheiben und Trinkgefäße. Und meine Ohren. Jetzt komm mit zu Meister Agoton!“
Meister Agoton entpuppte sich als ein sauertöpfisch dreinblickender Mann um die Vierzig. Auf seiner dick wattierten, dunkelvioletten Samtjacke prangte das silbergestickte Wappen der königlichen Hochschule von Sandborn. Sein blonder Schnurrbart schien die Mundwinkel in dem hageren Gesicht noch tiefer herunterzudrücken. Über Agotons Stirn zogen sich einige tiefgründige Furchen. Auf seinem Scheitel glänzte eine kahle Stelle.
„Die Ronn bedienen sich einer unglaublich primitiven Sprache,“ beschwerte Agoton sich, sobald seine