Die Glasbrecherin. Irene Euler

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Die Glasbrecherin - Irene Euler

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war, sahen die Glasbrecher noch viel widerwärtiger aus als alle Erzählungen glauben ließen. Diese gebeugten, schlurfenden Gestalten mit ihren stieren Blicken aus krätzigen Gesichtern! Er musste dankbar sein, dass er nur einzelnen Glasbrechern begegnet war, und dass der fahle Fackelschein viel verborgen hatte. Das Gespräch mit dem Ältesten war schlimm genug gewesen. Wie alt mochte er sein, um die siebzig? Wiralin hatte Hundertjährige gesehen, die besser aussahen. Eine Zumutung, in diese Triefaugen blicken zu müssen, die über einer laufenden Nase in einem völlig kahlen Schädel saßen! Und diese knotigen Finger, die der Älteste genauso zittrig hielt wie seinen Kopf, während ein grauenvoller Ausschlag seinen Hals hochkroch! Bei Algons Anblick hatte Wiralin bezweifelt, dass die Stimme tatsächlich das Schlimmste an einem Glasbrecher sein sollte. Doch er war rasch eines Besseren belehrt worden. Bei jedem halblauten Wort des Ältesten hatte Wiralin den Reflex unterdrücken müssen, beide Hände über seine Ohren zu legen. Niemand konnte diesen Kreischton ertragen. Und natürlich war dieser Kreischton der wahre Grund dafür, dass Mooresruh keine Fenster hatte. Selbst der Einbau einiger kleiner Fenster wäre eine riesige Dummheit gewesen. Nach jedem Schmerzens- oder Schreckensschrei hätten die Glasscheiben ersetzt werden müssen – wieder und immer wieder. Nur das Flüstern der Glasbrecher blieb frei von dem alles zerschmetternden Kreischton. Aber um das Flüstern des Ältesten verstehen zu können, hatte Wiralin viel näher zu ihm heranrücken müssen als ihm lieb gewesen war. Wenigstens war der Alte gefügig geblieben, obwohl die Botschaft der Generalin ihn sichtlich erschüttert hatte. Wiralin verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. Am liebsten wäre er sofort abgereist, ohne auf den kräftigsten Glasbrecher zu warten. Zum ersten Mal konnte er einen Befehl seiner Generalin nicht gutheißen. So brillant Ulante sonst als Feldherrin war – einen Glasbrecher gegen die Ronn einzusetzen war eine Schnapsidee, die nach Verzweiflung roch. Der Schrei eines Glasbrechers würde die Ronn zwar garantiert in Angst und Schrecken versetzen. Aber bei den eigenen Truppen würde ein solcher Schrei dieselben Fluchtgedanken hervorrufen. Was wäre dadurch gewonnen, wenn die Ronn sich entsetzt die Ohren zuhielten, wenn auch die Linländer unter dem unerträglichen Ton keinen Angriff führen könnten? Es würde auch nicht helfen, den Linländer Soldaten die Ohren zuzustopfen. Dann würden sie nämlich die Befehle ihrer Oberen nicht mehr hören. Nur wenn es in einem Dorf zu einem Kampf von Haus zu Haus käme, wäre die Zerstörung aller Fensterscheiben von Vorteil. Doch kein Linländer war jemals in eine Siedlung der Ronn vorgestoßen – nicht einmal einer der Späher. Weshalb sollte Ulante also annehmen, dass ihnen ein solcher Vorstoß während der kommenden Kampfsaison gelingen würde?

      „Soll ich die Maultiere nicht doch ausspannen, Herr? Wer weiß, wie lange wir noch auf diesen Glasbrecher warten müssen.“

      Wiralin fuhr unter der plötzlichen Frage heftig zusammen. „Mein Nein von vorhin gilt immer noch,“ schnauzte er seinen Wagenführer an. „Wenn ich meine Entscheidung ändere, werde ich es dich wissen lassen!“

      Uto hob die Schultern und beäugte Wiralin ebenso verdrossenen wie vorwurfsvoll. Zweifellos dachte er gerade an die Schelte, die er sich vor einigen Tagen eingehandelt hatte, weil er nach Ansicht seines Herren nicht sorgsam genug mit den Maultieren umgegangen war. Unwillig wandte Wiralin sich ab. Für gewöhnlich ließen dumme Fragen seiner Untergebenen ihn völlig kalt. Doch diesmal hatte Uto ihn erschreckt. Weil er von der falschen Seite gekommen war. Unwillkürlich hob Wiralin die rechte Hand zu seinem Gesicht, um die wulstige Narbe zu betasten, die sich senkrecht von seiner Stirn bis über den Backenknochen zog. Sie stammte vom Schwerthieb eines Ronn während des letzten Kampfs im vergangen Jahr. Die erste ernste Verwundung nach vier Jahren im Linländer Heer hatte Wiralin nicht nur grausam entstellt, sondern ihm auch noch sein rechtes Auge geraubt. Oredion war nichts anderes übrig geblieben, als das Augenlid ebenso zuzunähen wie das Fleisch über der Stirn und über dem Backenknochen. Zumindest hatte der Arzt dies behauptet, als Wiralin aus dem Meer von Schmerzen und Betäubungsmitteln aufgetaucht war. Der Oberste Bogen und der beste Bogenschütze des Linländer Heers war nun ein Einäugiger – und damit vielleicht Geschichte. Zumindest ließen die letzten Wochen nichts Gutes ahnen. Erst hatte Ulante das Kommando über die Bogenschützen seiner Stellvertreterin übergeben – vorerst, wie sie sagte. Dann hatte sie ihn nicht mehr zu den Generalstabsitzungen gerufen. Und nun stand er hier vor dem Tor von Mooresruh, um einen dieser elenden, nutzlosen Glasbrecher in den Glynwald zu bringen. Jeder einfache Soldat wäre dazu imstande gewesen. Ulante hatte ihm zwar einzureden versucht, dass sie einen ihrer engsten Vertrauten schicken wollte, aber gerade in diesen Worten lag die schlimmste Degradierung. Einer ihrer engsten Vertrauten?

      Wiralin stand kurz davor, vor der Kälte zu kapitulieren und seinen Mantel aus dem Wagen zu holen, als sich endlich das Tor von Mooresruh mit lautem Knarren öffnete. Nun gab es kein Zurück mehr von Ulantes absurdem Befehl. Wenigstens würde er diesen unerträglichen Ort nun hinter sich lassen können. Mit betont gleichgültiger Miene wandte Wiralin sich dem Tor zu, um den kräftigsten der Glasbrecher zu betrachten – und traute seinem Auge nicht. Ihm kam eine erbärmliche Gestalt entgegen. Eine Kutte aus groben Hanffasern schlotterte um einen kleinen, dürren Körper. Nicht einmal die winterliche Unterkleidung vermochte den Eindruck zu wecken, dass Fleisch auf diesen Knochen saß. Die Schultern hingen der Gestalt herab, als ob sie eine Maultierladung Holz auf dem Rücken tragen würde, dabei hatte sie nur einen kleinen Beutel bei sich. Das kinnlange, stumpfe und merkwürdig schlammfarbene Haar umrahmte ein hohlwangiges Gesicht, dessen Schnitt bestenfalls erahnen ließ, dass die Gestalt weiblich war. Der einzige Flecken Farbe kam von einer enormen Fieberblase auf den schmalen Lippen. Die Haut über den hervorstehenden Backenknochen war hingegen so kränklich blass, dass sie beinahe grau wirkte – grau wie die Augen, unter denen tiefe Schatten lagen. Sie blickten ängstlich drein, bis sie sich plötzlich verschlossen. Offenbar stieß die grausige Narbe auf seinem Gesicht die Glasbrecherin ab. Als ob diese jämmerliche Gestalt sich ein Urteil über einen normalen, gesunden Linländer erlauben dürfte! Wiralin kämpfte mit dem Impuls, sie einfach auf der Straße stehen zu lassen. Mit größter Überwindung öffnete er die Wagentür und forderte die Glasbrecherin mit einer Kopfbewegung dazu auf, einzusteigen.

      Erdree war bis zum Tor von Mooresruh gelangt, ohne innezuhalten und ohne sich einen Gedanken zu erlauben. Freilich hatte sie Algon erst vor Kurzem Lebewohl gesagt. Danach war nicht mehr für sie zu tun geblieben, als ihre mageren Habseligkeiten in einen Leinensack zu stopfen. Sie besaß nur einige Kleidungsstücke. Alles andere teilten die Bewohner von Mooresruh miteinander. Eigentlich betrachtete Erdree nicht einmal die Wäsche, Hemden und Strümpfe als ihren Besitz. Die Linländer bezahlten mit ihren Steuern alles, womit die Glasbrecher sich am Leben erhielten. Die einzige Ausnahme war der Torf, der als Brennmaterial diente. Den Torf stachen die Glasbrecher selbst im Moor. Streng genommen gehörte eine Glasbrecherin also den Linländern. Deshalb hatte sie keine Wahl, ob sie dem Ruf des Linländer Heers folgen wollte oder nicht – egal, wie undenkbar ein solcher Ruf vor diesem Tag gewesen war. Deshalb hieß es jenen Ort, an dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, zu verlassen. Womöglich für immer. Nur noch dieses Tor stand zwischen ihr und dem Bruch mit ihrem bisherigen Leben, nichts und niemand sonst. Kein Glasbrecher außer Algon wusste, dass sie gerade Mooresruh verließ. Sie hatte sich von niemand anderem verabschiedet. Sie wollte nichts gefragt werden, worauf sie selbst keine Antwort wusste. Und sie wollte schon gar nicht sehen, wie die Augen der anderen Glasbrecher ihre eigenen Ängste spiegelten. Die anderen sollten ihre Ängste für sich behalten. Sie hatte genug mit ihren eigenen zu tun. Seit sie denken konnte, hatte man ihr gesagt, dass ein Glasbrecher das Leben eines normalen Linländers nicht überstehen würde. Die Glasbrecher waren nicht nur mit einer Stimme geschlagen, die unerträglich durch alle Ohren schnitt und alles Glas zerschmetterte. Die Glasbrecher waren außerdem schwach und anfällig für alle Arten von Krankheiten. Die Natur hatte sie dazu verurteilt, ihr Leben leidend zu verbringen – mit Ausschlägen, Fieber und Lungenkrankheiten, häufig verkrüppelt durch Rheuma. Sie starben früh. Selbst das mittlere Erwachsenenalter erreichten die Glasbrecher nur, weil die Großzügigkeit der Linländer es ihnen erlaubte, ihr Leben in Mooresruh in weitgehender Muße zu verbringen. Wusste Generalin Ulante das alles nicht? Oder wusste sie es und forderte trotzdem den Dienst eines Glasbrechers, weil das Wohl Linlands eben wichtiger war als das Leben eines einzelnen Glasbrechers – eines Glasbrechers, der ohne die Wohltätigkeit der Linländer ohnehin nicht mehr am Leben gewesen wäre?

      Erdree

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