Wie in einem Spiegel. Eckhard Lange
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Ich war gerade zehn Jahre alt geworden, der Wechsel auf eine weiterführende Schule stand an, doch der Vater war unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Es war der Großvater, der sich meiner erinnerte: Er hatte dieser Machtübernahme durch meinen Onkel nur zugestimmt, als dieser versprach, für den Neffen zu sorgen, der nun kein Erbe mehr war, sondern ein verarmter Verwandter: Peer Yolck sagte zu, mir eine exzellente Ausbildung zu verschaffen. So kam ich nach Lenorenlund. Er sagte auch zu, dass ich später – wenn ich es denn wollte – Gesellschafter der Yolck Pharma werden könne. Allerdings, es gab darüber keinen Vertrag, kein Dokument, es war allein das Wort des ehrbaren Kaufmanns, auf das Großvater vertraute. Und bislang hatte das Internat pünktlich mein Schulgeld erhalten, einschließlich einer Summe, die mir als Taschengeld zugedacht war und die ich kaum je in voller Höhe ausgegeben habe.
Es ist deine Jugend, Jason Yolck, du Spiegelbild vor meinen Augen, die ich dir erzählt habe. War es eine schöne Kindheit? Denke nach, urteile nicht vorschnell! Du hast wunderbare Jahre verbracht in jener Villa mit ihrem Garten, nicht wahr? Du hast schreckliche Zeiten durchlebt in deiner Suche nach einer verlorenen Liebe, die dich solange getragen hatte. Du bist furchtbar einsam gewesen, auch das ist wahr. Du hast ein Zuhause gefunden in jenem weißen Schloss auf dem hohen Ufer über der Förde, erst im Dorf und dann in einem der Kavaliershäuser, ein Zuhause mit Freunden, mit Kameraden, die dir Achtung entgegenbrachten, die dir vieles anvertraut haben, mit Lehrern, die mehr waren als Unterrichtende, fürsorglich und väterlich. Hast du etwas vermisst? Kannst du dich beklagen? Denke gut nach, ehe du antwortest! Du musst Rechenschaft geben über dein Leben, ehe es endet, und dieses letzte Zeugnis wird gültig bleiben im Gericht – wer auch immer dich richten wird und welche Gesetze dann gelten mögen. Hast du ausreichend Liebe empfangen, damit man von dir auch erwarten konnte, dass du Liebe verschenken würdest, und hast du es getan? War es wirklich Liebe, was du anderen gegeben hast? Sei ehrlich, Jason Yolck, wenigstens diese eine Mal sei ganz und gar ehrlich, weil es das letzte Mal ist für eine Antwort.
KAPITEL 3
Dr. Scheer war ein hagerer, hochgewachsener Mann, die hohe Stirn wirkte noch höher, seit sein Haaransatz sich unaufhaltsam weiter zurück bewegte. Obwohl er erst Mitte Vierzig war, wurde das schüttere Haar bereits sichtlich grau. Er trug es kurz geschnitten, so dass auch der freie Nacken seine Größe betonte. Wie die meisten Lehrer trug er Jeans und ein dunkles Oberhemd, das angesichts der ungewohnt warmen Temperatur auch am Abend noch völlig ausreichte. Er hatte sein Arbeitszimmer ein wenig aufgeräumt, nicht zu viel, denn er wollte seinem Gast keine bewusste Ordnung vorspielen, aber doch soweit, dass das sonst übliche Chaos auf seinem Schreibtisch gebändigt erschien. Auf dem Tischchen in der Sitzecke standen bereits zwei Kristallgläser und eine Flasche Rotwein – er hatte eine möglichst leichte Sorte gewählt, schließlich erwartete die Schule gerade von ihren bereits volljährigen Schülern, dass sie zurückhaltend umgehen mit allem, was Alkohol enthält. Ein Internat, das schließlich auch Zehnjährige beherbergt, hatte leicht einen guten Ruf zu verlieren.
Der Lehrer war sich nicht sicher, ob Jason Yolck überhaupt seiner Einladung folgen würde. Er hatte sie schließlich bewusst so ausgesprochen, dass sein Lieblingsschüler ohne Schuldgefühle auch fernbleiben konnte. Und doch hoffte er, Jason würde die Gelegenheit nutzen, mit dem Lehrer über seine Pläne zu sprechen – falls er denn überhaupt Pläne hatte. Eben das schien dem Pädagogen fraglich. Er hatte noch einmal einen Blick in die Unterlagen geworfen, die im Sekretariat über jeden Schüler geführt wurden. Seine Leistungen, seine Mitarbeit in den schuleigenen Gilden, seine freiwillig übernommenen Aufgaben im Internat kannte er, dazu bedurfte es keiner Nachforschungen. Aber die familiäre Situation seiner Schüler war ihm nur dort geläufig, wo es Probleme gegeben hatte, und das war bei Jason Yolck nie der Fall gewesen.
Das einzig Auffällige war die Tatsache, dass der junge Mann häufig seine Ferien ganz oder teilweise im Internat verbrachte. Erst jetzt aber wurde Dr. Scheer wirklich bewusst, dass Jason offensichtlich überhaupt kein Zuhause hatte: eine früh verstorbene Mutter, ein Vater, der als Adresse ein Altersstift hatte – wohin sollte der Junge da auch fahren? Die Zahlungen kamen von einem Onkel, doch der Lehrer konnte sich nicht erinnern, ihn jemals bei einer jener Veranstaltungen gesehen zu haben, zu denen Eltern und Angehörige geladen wurden und meist auch erschienen. Nein, Jason hatte kein Elternhaus, und er hatte wohl auch niemand, der ihm jetzt mit gutem Rat zur Seite stehen könnte. Umso wichtiger war, dass er – sein Tutor – ihm das Gespräch anbot.
Fast hatte Dr. Scheer das Warten bereits aufgegeben, als es dann doch noch an der Tür läutete. Er öffnete. Jason stand mit einigen Zetteln im Türrahmen und begann mit einer Entschuldigung: „Es ist leider etwas später geworden,“ sagte er zögernd, „aber ich wollte nicht ganz unvorbereitet kommen. Ich habe dafür die Optionen aufgelistet, die ich mir für die Zeit nach dem Abi vorstellen könnte.“ Der Lehrer musste lächeln: Das war typisch für diesen Schüler, und das machte ihn auch so sympathisch. Er ging sein eigenes Schicksal an wie eine Versuchreihe im Labor – da mussten alle nur möglichen Fehler zunächst ausgeschlossen werden, sollte das Experiment zum Ziel führen. „Kommen Sie herein, Jason. Ich freue mich, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken.“
Er goß die Gläser voll und reichte eines seinem Schüler. „Auf Ihre Hausaufgaben,“ sagte er und hob das eigene Glas. „Lassen Sie hören, was Ihnen alles eingefallen ist.“ Jason ordnete seine Zettel auf zwei Stapel. „Ich denke, es gibt für mich zwei Alternativen – ohne dass ich jetzt über die Finanzierung nachdenke. Die erste wäre ein Studium, die zweite eine Berufsausbildung – als Vorstufe für ein späteres Studium. Sie kennen meine Interessen, Herr Dr. Scheer. Ich finde zwar manches spannend, aber das meiste würde höchstens für ein Hobby reichen. Es sind die exakten Wissenschaften, die mich reizen könnten.“ „Gut,“ mischte der Lehrer sich ein, „lassen wir die genauere Wahl zunächst beiseite. Kommen Sie erst einmal zu Ihrem zweiten Stapel. Der steht unter der Überschrift 'Beruf', wie ich vermute.“
Jason nickte. „Aber hier steht fast überall ein großes Fragezeichen hinter meinen Notizen. Das macht es nicht gerade leichter.“ „Lesen Sie einfach vor, dann reden wir darüber!“ Es wurde ein langes Gespräch, aber Dr. Scheer merkte bald, dass er die Unsicherheiten seines Schülers nicht ausräumen konnte. Irgendetwas stand seiner Entscheidung im Weg, und das blieb unausgesprochen, falls es dem jungen Mann überhaupt bewusst war. Doch dann folgte der Lehrer einer spontanen Eingebung und fragte: „Was mich interessieren würde: Welches Beruf hatte eigentlich Ihr Vater?“ Jason schwieg eine Weile, dann sagte er leise: „Ich glaube, Sie haben mich jetzt festgenagelt. Da ist etwas, was ich mir nie wirklich eingestehen wollte.“ „Möchten Sie darüber sprechen, Jason?“ fragte der Ältere vorsichtig. „Ich will Ihnen keine Geheimnisse entreißen. Aber wenn hier ein Stolperstein im Weg liegt und wir ihn forträumen könnten, dann sollten wir es tun – jetzt tun.“
Wieder brauchte Jason Zeit, um zu antworten, und sein Lehrer wartete geduldig. „Sie haben vielleicht einmal ein Medikament genommen, das von einer gewissen Yolck Pharma stammte,“ begann er endlich. „Das ist – meine Familie. Mein Großvater ist Apotheker.. gewesen, muß ich hinzufügen. Und er hat die beiden Mittel einmal zusammengemischt. Ja, es sind zwei Medikamente, nur zwei, die Yolck Pharma produziert, immer noch nach seiner Rezeptur. Darum hat auch mein Vater Pharmazie studiert, er hat die Mittel ständig verbessert, dem Bedarf angepasst, aber es ist immer noch das alte Patent. Vielleicht wäre er sonst Maler geworden, oder Bildhauer, er hatte, soviel ich weiß, durchaus auch eine künstlerische Ader. Aber es gab das Werk, es gab eine Belegschaft, und vor allem, es gab einen Markt. Ich habe mich nie sonderlich dafür interessiert, und doch – Yolckosar und DiaYolck sind ein Erbe, dem ich mich verpflichtet fühle. Irgendwie.“
„Aber Ihr Vater ist nicht mehr tätig?“ Wieder fühlte Dr. Scheer, dass er sich auf dünnem Eis bewegte mit seinen Fragen. Doch er fühlte auch, dass Jason darauf wartete, endlich einmal über seine Familie zu reden. „Der Tod meiner Mutter hat