Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
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Während der Zeit des Praktikums in der Staatsbibliothek war es ihr nicht gelungen, Karteikarten zur Zufriedenheit der älteren Bibliothekarinnen aus-zufüllen. Die steile Normschrift von Ackerknecht fiel ihrer Hand schwer, Punkt und Komma, eckige oder runde Klammern standen an falscher Stelle. Auch mit dem Alphabet haperte es bei ihr, wenn sie die Karteikarten an ihren richtigen Ort stellen sollte. Weglaufen hätte sie mögen, als sie mitbekam, dass der Beruf, in den sie wegen ihres Bücherhungers geraten war, gar nichts mit Lesen zu tun hatte. Bücher ordnen, katalogisieren, eintragen, austragen; oh, es könnten auch Brote sein. Und solche Tätigkeit sollte ein Beruf fürs Leben werden!
Lange Zeit war sie ohne feste Vorstellungen über das, was sie werden wollte. Ihr Interesse war ganz unspezifisch auf das Leben gerichtet. Neugierig war sie, ohne zu wissen, worauf. Die Antwort hoffte sie in Büchern zu finden, die sie massenhaft verschlang.
Hier, in ihrer Arbeitsstelle hatte sie es glücklicherweise mit wirklichen Büchern zu tun. Anders als in der Staatsbibliothek, da lagerten die Bücher in fernen Magazinen, in die Bibliothekare gar nicht vordrangen. Magaziner, auf die ihre Berufskolleginnen geringschätzig herabblickten, zogen die Bücher aus den Regalen, wenn sie von Lesern verlangt wurden. Ihre Bücher hier mussten katalogisiert werden, die konnte sie anfassen, aufschlagen, lesen. Auch stand sie nicht ständig unter Aufsicht. Herr Kobus kam und fragte, womit sie beginnen wolle und wie sie den weiteren Fortgang der Arbeit geplant habe. Er gab ihr diesen und jenen Hinweis, vermied es, ihr auf die Finger zu schauen. Ein Vierteljahr veranschlagte er für die dringendsten Arbeiten, dann müsse der Leseraum benutzbar sein. Über diese genaue Festlegung war sie erschrocken, sie hatte keine Vorstellung von der Zeitdauer der Arbeit. Würde sie das schaffen, ertragen, eine so lange Zeit immer mit der gleichen Sache beschäftigt zu sein? Bis Ostern, ein unermesslich langer Zeitraum schien ihr das, hatte das Jahr doch eben erst begonnen. Sie hatte noch nicht erlebt, wie sich die Zeit in Abschnitte gliedert, die mit den Jahren immer schneller vergehen sollten. Noch hatte sie das Zeitgefühl der Jugend, alle Zeit lag vor ihr. Ein Schuljahr dehnte sich unermesslich lang, während die Ferien schnell vergingen, das immerhin hatte sie schon erlebt.
Mit seiner Bemerkung gab ihr Herr Kobus ein neues Zeitgefühl. Plötzlich strebte jetzt alles nach Ostern hin. Sie begann, die Tage und Wochen zu kalkulieren, Arbeitsschritte mit ihnen in Zusammenhang zu bringen. Herr Ko-bus kam auf seine Worte nicht wieder zurück. Sein Erscheinen in ihrem Lesesaal unterlag einem Rhythmus, der mit ihrer Arbeit nichts zu tun hatte. Täglich kam er um 12.30 Uhr, gleich nach der Mittagspause. Bis dahin hatte sie ihn nur am Morgen um dreiviertel acht, im Flur vor seinem Zimmer gesehen, wo er kurz guten Morgen! sagte. Wenn sie sich verspätete, Minuten nach Arbeitsbeginn den Flur entlang hastete, deutete er auf seine Taschenuhr, die er in der Hand hielt und sagte streng: „Pünktlich sein!“ Er hob die Augenbrauen, verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln, nur seine hellen Augen blieben ernst. Das fand sie übertrieben, begriff aber, als sie eines Morgens zwanzig Minuten zu spät gekommen war, dass ihr das nicht mehr passieren durfte. Sie hatte die S-Bahn versäumt und lief mit schnellen Schritten an Herrn Kobus´ Tür vorbei. Sie saß schon hinter ihrem Schreibtisch, als der den Kopf zur Tür hineinsteckte. Heute bekam sie eine längere Lektion über die Einhaltung der Arbeitszeit, er lobte Irene, die immer zeitig da war, Gisela hätte vor Peinlichkeit im Boden versinken mögen. Als er nach der Mittagspause im Lesesaal erschien, kam er auf die Sache nicht mehr zurück, sondern erkundigte sich nach dem Fortgang der Arbeit. Er ging an den Regalen entlang, sah sich an, welche Bücher sie ausgewählt hatte, wie sie geordnet waren, kam schließlich an Giselas Schreibtisch. Auch hier schaute er auf die Bücherberge, die vor ihr lagen, fragte nach Dingen, die er sehen konnte, lobte, wenn er in den Katalogkarten blätterte, äußerte sich befriedigt über den Fortgang der Dinge. Bücher lagen zur Seite, bei denen sie ihn fragen wollte, wohin sie gehörten. Sie sammelte solche Fragen, weil sie unsicher war, aber auch, weil sie spürte, dass er Anlässe suchte, ihr etwas zu erklären. Das kannte sie schon von ihrem Vater, den es offensichtlich befriedigte, wenn sie sich gelehrig zeigte. Das war auch hier so. Sie hörte stehend zu, sah zu ihm auf. Er war nicht viel größer als das Mädchen, deshalb spürte sie, wenn er sich in Eifer redete, seinen feuchten Atem auf ihrem Gesicht. Die Schritte, die sie rückwärts ging, folgte er ihr nach. Lieber noch saß sie, dann sprach er über sie hinweg, sie blickte nach unten, übersah so den weißen Schaum, der sich in seinen Mundwinkeln bildete. Es ekelte sie. Er wirkte angespannt, wenn er sprach, zuckte mit Armen und Schultern, manchmal ging das auf sein Gesicht über. Es passierte, dass er beim Sprechen anstieß oder unerwartet in Heiterkeit ausbrach. Das verwirrte sie immer, weil es so unerwartet kam. Er kicherte und feixte, um ebenso plötzlich abzubrechen. Insgesamt fand sie ihn nicht unfreundlich, sah ihn bemüht, es ihr gegenüber auch zu sein. Das rührte sie ein wenig, hinderte aber eine gelöste Atmosphäre im Umgang mit dem Chef. Bei den wöchentlichen Arbeitsbesprechungen erlebte sie, dass er auch den anderen gegenüber befangen war, obwohl sich hier alle mit vertrautem Du anredeten. Die Mädchen wurden bald in dieses brüderliche Du eingeschlossen, nachdem man sie eine Zeitlang Fräulein genannt hatte. Gisela fiel der Gebrauch dieser Anrede den Älteren gegenüber schwer. Auch als man sie mit dem Vornamen ansprach, blieb sie beim Sie oder vermied jede direkte Anrede.
Manchmal brachte Herr Kobus zu seinen Kontrollgängen Frau Pietsch mit, eine Mittdreißigerin, die ihn vertrat und in der Sperrbibliothek ihren Platz hatte. Eher klein und rund, war sie mit hohen Absätzen bemüht, würdevoll zu erscheinen. Sie lief sehr schlecht in ihren Schuhen, beugte sich nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten und drückte dabei den Steiß heraus, was ihren Gang entenhaft machte. Frau Pietsch sprach Gisela nur selten direkt an, unterhielt sich mit dem Chef, wenn sie ihren Rundgang machten. Stand sie Gisela gegenüber, irrten ihre Augen nach kurzer Zeit ab und ihr Blick verlor sich irgendwo. Das junge Mädchen empfand deutlich, dass die andere mit Wichtigerem befasst war, als sie und ihre Arbeit es hier waren. Diesen Ein-druck vermittelte sie auch in Besprechungen, in denen sie über die Belange ihres gesperrten Bestandes sprach. Der bestand aus Zeitungen, Zeitschriften und wenigen Büchern, alles hoch giftig, ideologisch gesehen, wie sie betonte. Sie verteidigte die besonderen Öffnungszeiten ihres Leseraums, meinte, die Genossen Aspiranten - so wurden die Leser hier genannt - könnten zu den angegebenen Zeiten kommen. Sie verteidigte sie gegen die Pläne von Herrn Kobus, der die Sperrbibliothek in den Spätdienst einbeziehen wollte. Aber die Genossin Pietsch war nicht bereit, dem Spätdienst ihr Reich anzuvertrauen. „Die politische Verantwortung trage ich“, sagte sie heftig gestikulierend, mit hochrotem Gesicht. Sie könne nicht fortwährend bis zwanzig Uhr arbeiten, meinte sie abrupt, eine Bemerkung, die Herr Kobus nicht verstand. Zwischen den Frauen wirkte er hilflos, hatte Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Die anderen verstanden, was Helga mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. Anni Metz riss ihre großen braunen Augen auf und fragte, ob Helga befürchte, dass die Westzeitungen ihr, der Anni, schaden könnten. Auch Edith Gütze, eine grauhaarige Frau mit verschiedenfarbigen Augen empörte sich laut und sagte an Helga gewandt: „Wofür hältst du mich, ich bin länger in der Partei als du!“ Die lenkte jetzt ein, wollte die Sache ohne die Parteilosen hier geklärt wissen, womit sie Irene und Gisela und zwei weitere Kollegen meinte. Die anderen stimmten ihr zu, aber es ging zwischen den Frauen trotzdem noch eine Weile hin und her und Gisela spürte, dass es zwischen ihnen etwas feindselig Trennendes gab.
Sie zog Irene auf dem Nachhauseweg in ein Gespräch über diese Beobachtung. Die winkte ab, es interessiere sie nicht, meinte sie abrupt, sie bliebe hier ohnehin nicht lange. Ihr Freund habe jetzt von Sekura zu Siemens rüber gewechselt. Es würde nicht lange geheim bleiben, vermutete Irene. Gisela begriff, dass die andere ihre eigene Welt hatte, die ihr ganzes Interesse band. Gern hätte sie ihr von Anni Metz erzählt, dass die 18 Jahre lang bei dem Dichter Gerhart Hauptmann Sekretärin gewesen war. Bis zu dessen Tod . Es imponierte Gisela ungemein, sie wollte wissen, wie so ein Leben verlief. „Kein Privatleben, aber interessant“, sagte Anni nur knapp, fragte nach dem Buch, das Gisela mit nach Hause nahm. „Oskar Wilde liest du“, sagte sie gedehnt. Seitdem sprachen sie öfter über Bücher. Anni kam in den Nachmittagsstunden in den Lesesaal, wenn Herr Kobus nicht zu erwarten war.