Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold

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war. Er sei Kommunist, durch ihn habe sie begonnen, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. Politik war ihr im jährlichen Rhythmus zwischen Agnetendorf, italienischer Riviera und Hiddensee kaum begegnet. Aber dafür glanzvolles Theater in Berlin, Dresden und Mailand. Große Gäste, die das Haus empfing. Thomas Mann las. Dann Begegnungen mit einem jüdischen Emigranten in der Schweiz, der dem Dichter heftige Vorwürfe machte wegen seines Bleibens in Deutschland. „Er verstand nicht mehr, was vor sich ging“, fasste Anni solche Erzählungen zusammen. Dann der Krieg und das Erlebnis, wie Dresden in Schutt und Asche sank. Die so geliebte Stadt.

      Obwohl sie eigentlich für die fast blinde Gattin Hauptmanns als Reisebegleiterin engagiert worden war, wurde sie die immer verfügbare Privatsekretärin bei ihm. Sie musste auch nachts da sein, wenn er diktieren wollte. Sie ertrug seinen Jähzorn. Sie schilderte immer neue Episoden aus dieser Zeit. Erst nach dem Tode Hauptmanns habe sie begonnen, ein eigenes Leben zu führen. Dem Dichter Johannes R. Becher und Oberst Tulpanow verdanke sie, dass sie eine Arbeitsstelle im Archiv der „Täglichen Rundschau“ bekam, einer Zeitung, die Gisela auch von zu Hause kannte. „Für mich begann wirklich ein neues Leben“, meinte Anni, und Gisela hörte ihr gern zu, fragte und wollte alles immer noch genauer wissen. Sie mochte Frau Metz, Anni nannte sie sie nur bei sich.

      Ihr fiel auf, dass die Frau bei Differenzen immer schnell klein beigab. Besonders gegenüber Edith, die stets betonte, dass sie eine alte Genossin sei. Gegen deren starrköpfige Streitlust kam niemand auf und Anni räumte schnell das Feld, wenn es um die Rituale der Buchausleihe ging, deren Einhaltung von Edith mit Nachdruck überwacht wurde. Sie thronte hinter ihrer Theke, sortierte die verschiedenen Abschnitte der Leihscheine in die entsprechenden Karteien und wachte darüber, dass der Drei-Stunden-Rhythmus der Leerung eingehalten wurde. Sie nahm die Zettel aus dem Kasten, rief im Magazin an, wo Franz die angegebenen Signaturen und die Bände aus den Regalen nahm. Der fuhr im Fahrstuhl mit seinem Karren hoch, brachte die bestellten Bücher und nahm die neuen Zettel an sich. Ganz selten, dass sie selbst die Treppe hinunterging. „Das ist nicht meine Arbeit“, sagte sie aufgebracht zu Anni, die sie in ihrer Abwesenheit vertrat und die für ein freundliches Wort sofort bereit war, die Treppe hinunterzusteigen und ein Buch zu holen, auf das jemand wartete. Edith Gütze schien die Macht zu genießen, die sie hier über Bücher und deren Leser hatte und auch ihre Freundlichkeit verteilte sie sehr ungleich. Sie unterschied strikt zwischen Aspiranten, Assistenten, Dozenten und Professoren, von denen ließ sie sich schon mal zu Ausnahmeregelungen verleiten. Unter ihnen hatte sie ganz spezielle Lieblinge, aber es gab auch solche, die sie sehr reserviert behandelte. Sie wusste über alle diese Männer Bescheid, ließ das aber immer nur durch Andeutungen erkennen, die sie mit spitzen Bemerkungen an die Leute brachte.

      „Edith ist verbittert, weil ihr Mann sie verlassen hat“, erklärte Anni der Gisela. Sie habe jahrelang um den Mann gebangt, der bis 1945 in Sachsenhausen saß. Er kam krank zurück, sie pflegte ihn in der Zeit danach, hatte manches ihm zugesteckt, was sie lieber hätte den Kindern geben sollen. Leidlich gesund, ging er auf eine Parteischule, wo er eine andere kennenlernte. Sie wollte es nicht glauben, obwohl alle es schon wussten. Dann die Scheidung und sie wieder mit den Jungen allein, die inzwischen schwierig geworden waren, dreizehn- und fünfzehnjährig. Inzwischen hatten die schon Familie, und Edith erzählte freudig über die Enkel, ohne die sonst immer lauernde Häme in der Stimme.

      Bei einer der montäglichen Arbeitssitzungen kam es zum Streit zwischen Edith und Helga Pietsch, die sonst viel die Köpfe zusammensteckten, sich in allem zu verstehen schienen. In Diskussionen beriefen sie sich auf Helgas Mann, der ein führender Genosse in der Agitationsabteilung im großen Haus war, wie Gisela erfahren hatte. Deshalb bestritt Helga gewöhnlich den ersten Tagesordnungspunkt der Sitzungen, dem Gespräch über aktuelle politische Ereignisse. Irene erklärte derlei zu einer Pflichtübung, die sie zum Kotzen fand, Gisela fand einen solchen Austausch interessant, erfuhr manches dabei. Heute hatte Genossin Pietsch in ihrer Einleitung den Namen eines bis dahin gänzlich unbekannten Mannes erwähnt, von dem sie meinte, dass wir ihn uns alle zum Vorbild nehmen sollten. Von der Brigade Nikolai Mamai aus dem chemischen Werk in Bitterfeld sei uns beispielhaft vorgemacht worden, wie wir auf sozialistische Weise arbeiten, lernen, leben könnten in diesem ersten Jahr eines neuen Siebenjahrplans, bei dem es darauf ankomme, die sozialistische Gesellschaft weiter auszugestalten. Sie schlug vor, das politische Gespräch mit den Parteilosen zu intensivieren, womit sie allgemeinen Beifall fand. Dann nannte sie Namen älterer Kollegen, die sich fachlich weiterbilden sollten. Darunter auch den von Edith Gütze, die sofort heftig auffuhr und ihr entgegenhielt, dass man ihr vor nicht langer Zeit eine solche Möglichkeit vermasselt habe, weil man sie hier nicht entbehren wollte und sie schließlich nicht jünger werde. „Bei mir ist es vorbei mit Qualifizierung, was ich für die Arbeit brauche, kann ich“, rief sie aufgebracht. Anni Metz wiederum fand die Vorschläge für gemeinsame Theaterbesuche und Buchbesprechungen gut und schön, aber als sie solche Dinge vor einiger Zeit organisiert habe, war der Zuspruch gering geblieben. „Gerade du, Helga, hattest immer keine Zeit oder mit deinem Mann etwas Besseres vor“, hielt sie ihr entgegen. Und Herr Kobus erinnerte an den Streit um den Spätdienst und meinte, die wichtigste Sache hier sei, dafür zu sorgen, dass die gewünschten Bücher schnell zugänglich sind. Das gelte auch für die Westzeitungen, die noch nach 17 Uhr verfügbar sein müssten. Auf Helgas Gesicht arbeitete es heftig, als sie sich solchen Anwürfen gegenüber sah. Ihr Kinn fiel nach unten und ihre Augen weiteten sich, bevor sie sich zur Entgegnung fasste. Die Diskussion hier fand sie typisch für die politische Gesamtsituation in der Bibliothek. Sie bedauere das umso mehr, als die jungen Kolleginnen hier schlechte Beispiele vorgeführt bekämen. Alle sollten sich überlegen, wie sie der neuen Parteilosung, die nicht ohne Grund ausgegeben wurde, gerecht werden und in der nächsten Woche Vorschläge dazu unterbreiten. Einige, die nicht gesprochen hatten, pflichteten ihr bei, mit Gesichtern, denen abzulesen war, dass es um Höheres ging, als hier offenbar wurde.

      Bei Gisela weckte der Streit den Verdacht, dass sich hier nicht alle so gut miteinander verstanden, wie sie angenommen hatte. Sie erlebte das erste Mal, dass Herr Kobus Helga Pietsch widersprach. Irene, mit der sie beim Nachhauseweg das Gespräch darüber suchte, wehrte ab, sah in dem Ganzen einen Versuch, sich noch weitgehender in die Privatangelegenheiten der Leute einzumischen. Aber sie mache da nicht mit, lange bliebe sie ohnehin nicht mehr, gab sie Gisela zu verstehen. Gisela schien die Reaktion der anderen nicht unbedingt mit dem zusammenzugehören, was sie erlebt hatten. Daher schob sie deren Erregung auf eine Sache, die sich einige Tage zuvor ereignet hatte. Anni Metz fahndete nach der Mitarbeiterin, die auf der Damentoilette rauchte. Sie fragte Gisela, die mit gutem Gewissen verneinte. Sie hatte ihre frühen Rauchererfahrungen schon vor einigen Jahren ohne nennenswerte Eindrücke hinter sich gebracht. Von Irene wusste sie gar nicht, dass die Zigaretten rauchte. Achim hatte immer den Stängel zwischen den Lippen, wenn er auf Irene wartete, aber sie nicht. Und nun ergab sich, dass der Qualm auf der Damentoilette tatsächlich von ihr herrührte. Die reagierte auf die Enthüllung mit Verbitterung, betrachtete die Sache als Einmischung in ihre Privatsphäre. Zwar war es in den Lesesälen verboten zu rauchen, aber im Katalograum standen Edith und Helga oft mit ihren Zigaretten in der Hand. Dort hätte auch Irene rauchen können. Aber sie bekannte sich nicht, nicht einmal vor ihrer Gefährtin. Gisela verstand es nicht. Irene wollte sich separieren, sich niemandem zugesellen, sprach wütend von Nachspioniererei. Gisela gab es auf, weiter in sie zu dringen, weil deren Reaktionen sich ähnelten, ganz gleich, worauf sie erfolgten. Irene sprach offensichtlich ihrem Achim zuliebe so. Der forderte sie mit herablassenden Bemerkungen über ihre Arbeitsstelle heraus, verlangte, dass sie sich absetzen solle von den Roten dort. Einzelne Kolleginnen interessierten ihn dabei nicht. Erzählungen über Anni oder Edith, deren Lebensgeschichten Gisela neugierig aufgenommen hatte, fanden bei ihm keinen Widerhall. Mit Irene allein, war das anders. Sie hörte zu, sagte erstaunt: „Was du alles weißt von denen.“

       Lipsi tanzen

      Ostern war vorbei. Gisela führte schon seit einiger Zeit Aufsicht in ihrem eingerichteten Lesesaal. Herr Kobus war mit Helga Pietsch, der Parteigruppenorganisatorin, gekommen, sie waren an den Regalen entlang gegangen, hatten die Signaturen geprüft und den Katalog in Augenschein genommen. Der Chef fand wenig zu beanstanden, er

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