Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
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Auf den Frühling folgt der Herbst
In der Bibliothek begann eine neue Zeit für sie. Sie hatte jetzt ein Geheimnis, das sie vor den Kollegen hüten würde. Das erwartete auch Johannes von ihr. Er begründete es mit seinen noch ungeklärten Verhältnissen, die er aber so bald wie möglich regeln wollte. Es entsprach auch ihrem Interesse, die Sache vorerst für sich zu behalten. Sie fürchtete die spitze Zunge von Edith, deren Augen nichts entging, wenn sie hinter der Theke der Bücherausgabe thronte. Auch die mokanten Bemerkungen von Frau Pietsch waren Gisela unangenehm. Sie ließen erkennen, dass sie das junge Mädchen für eine dumme Gans hielt. Aber von Johannes schien sie einiges zu halten. Worin das gründete, erfuhr Gisela nicht. Vom Chef hatte sie in dieser Beziehung nichts zu befürchten. Ihn interessierten derlei Geschichten nicht, das hatte er mehrfach betont; auch bemerkte er wenig. Gern hätte sie sich Irene anvertraut, hatte mehrmals angesetzt, ihr zu erzählen, dass Johannes Selber sie in die Oper eingeladen habe und er ihr gefiele. „Der gefällt dir?“, meinte Irene gedehnt und schloss nach einer kurzen Pause die Prophezeiung an: „Wenn du das anfängst, kommst du hier nie wieder raus.“ Gisela bemerkte, dass der Mann bei Irene für mehr stand, sie aber nicht aussprach, was sie meinte. Offenbar war wieder ihr Achim im Hintergrund. Seitdem hatte Gisela mit der Freundin nicht mehr darüber gesprochen. Der freundlichen Anni hätte sie sich anvertrauen mögen, aber sie fürchtete, dass die es nicht für sich behalten würde. Es ging ja auch nur sie und ihren Johannes an, sagte sie sich und schwieg. Ohnehin fürchtete sie, sich zu verraten. Denn sie spürte ihre eigene Aufregung am ganzen Körper, wenn er in den Lesesaal kam und kurz das Wort an sie richtete.
Nach dem „Gajaneh“-Abend hatte Gisela Johannes nur wenige Male gesehen. Jetzt kam er, um ihr zu sagen, dass er für drei Wochen an den Gold-strand nach Bulgarien fahren würde. Er hätte sie gern mitgenommen, aber leider, es ginge nicht. Die Reise sei schon vor Monaten gebucht worden. Viel würde er an sie denken, ihr etwas Schönes mitbringen, er hätte diesen Urlaub bitter nötig, er hoffe sie unverändert vorzufinden. Ende August wäre er wie-der ganz und gar in Berlin, er müsse nach der Reise sechs Wochen lang einen Reserveoffiziersdienst ableisten, wann er den genau antreten müsse, wisse er noch nicht, man würde sich vielleicht vorher noch sehen können. Nachdem er gegangen war, legte sich ihr ein Ring um die Brust. Das Atmen war plötzlich mühseliger. Der Sommer hatte so verheißungsvoll begonnen. Jetzt, Anfang Juli, schien er für sie schon zu Ende. Sie sollte nach Lauterbach fahren, an den Greifswalder Bodden, denn die Vorstellung, ihren Urlaub auf dem Gelände von „Gemütlichkeit” zu verbringen, erschien ihr schrecklicher denn je. Mit der FDJ-Gruppe nach Lauterbach, das war plötzlich eine Aussicht für den Sommer, an der sie ihre Gedanken festmachen konnte. Im Bodden baden war immerhin besser als in ihrem Kanal.
Tage und Wochen vergingen und sie bemerkte, dass es leichter war, Zeit zum Vergehen zu bringen, wenn sie die Gedanken auf den alltäglichen Gang der Dinge richtete. Trotzdem suchte sie den bulgarischen Goldstrand im Atlas und dachte sehnsuchtsvoll an Johannes’ Rückkehr. In solchen Momenten schmerzte ihr Herz, der Ring war dann sehr fest. Manchmal überfiel sie auch Zorn. Sie fand, man nahm ihr etwas. Wenn sie an ihn dachte, merkte sie, es war nicht viel, woran sie sich festhalten konnte. Aber sie erinnerte sich ihrer Empfindungen, die in seiner Gegenwart entstanden waren. Manchmal auch an die Ernüchterung, die kam, nachdem sie sich ihm einen Moment lang ganz überlassen hatte. Wenn sie den großen, gutaussehenden Mann vor ihrem inneren Auge sah, empfand sie Stolz auf ihn und auf sich, weil er sie erwählt hatte. Bei diesem Auf und Ab ihrer Gefühle wurde sie gewahr, wie schnell die Tage um waren. Auch die neue Arbeit trug dazu bei, verlangte Konzentration und half, die Zeit vergehen zu lassen. Es entstand eine gleichmütige Zufriedenheit in ihr, die nur selten vom Erschrecken unterbrochen wurde. Dann bestürzte sie die Tatsache, wie schnell alles verging und dass sie durch ihr heftiges Warten auf das Ende des Sommers zu diesem Vergehen beitrug. In diesen Tagen ahnte sie, dass sie selbst es war, die für das lautlose Kommen und Gehen der Tage und Wochen verantwortlich war. Ihre Zeit war es, die hier verging. Aber sie ertrug es klaglos, war selig in ihren Empfindungen, die sie dem Ende des Sommers zutrugen.
An einem der letzten Augusttage stand er vor ihr im Lesesaal, war sonnen-gebräunt und übergab ihr eine lange Kette. Sie war entzückt über die kleinen, aufgefädelten Muscheln, trug die Kette über einem rot gemusterten, ausgeschnittenen Kleid. An Spätsommerwochenenden radelten sie von Königs Wusterhausen zu einem der umliegenden Seen. Dort stellten sie ein kleines graues Zelt auf, das er aus der ehelichen Wohnung geholt hatte. Auch sein Fahrrad musste Johannes erst fahrtüchtig machen, es hatte Jahre herumgestanden und Rost angesetzt. Man war Auto gefahren in den letzten Jahren, aber das behielt jetzt die Frau und er wollte gern an die Radtouren seiner Jugend anknüpfen, die er ins Erzgebirge und in die Sächsische Schweiz unternommen hatte. Der Umstieg aufs Fahrrad erschien ihm als Rückkehr zur Jugend, für die er ihr, Gisela zu danken habe. Bei solchen Worten blickte sie zu ihm auf und war stolz. Längst hatte sie es aufgegeben, irgendeine innere Reserve gegen ihn aufzubauen. In den langen Wochen der Trennung hatte sie sich vorgenommen, ihn ihre Enttäuschung spüren zu lassen. Als er von seiner Sehnsucht sprach und sich nach ihrer erkundigte, sagte sie spitz: „Manchmal hab ich an dich gedacht; aber ich wusste nicht, wie ich an dich denken sollte.” Sogleich schoss ihr das Blut ins Gesicht, sie bereute ihre Worte, fürchtete, ihn zurückzustoßen. Sie wollte ihn treffen und ihm doch nah sein, aber es war klar, dass sie ihrer Absicht nicht gewachsen war. Er machte es ihr durch viele Worte leicht, ihren eigenen eine andere Bedeutung zu geben. Die untauglichen Versuche, sich gegen ihn zu wappnen, unterließ sie dann.
Im Herbst fuhr er mit ihr nach Dresden, zeigte ihr Schloss Pillnitz, die Alten Meister im Semperbau und das Grüne Gewölbe. Sie wohnten in einem richtigen Hotel. Es war alles sehr neu für Gisela, die beglückt, wie auf Wolken an seiner Seite lief. Als sie zurückkamen, meinte die Mutter, dass es wohl an der Zeit wäre, den Freund vorzustellen, den sie so hartnäckig geheim hielt. Gisela bemerkte die Verärgerung der Mutter. Es war ihr peinlich, sie wusste selbst nicht genau, warum sie es hinauszögerte. Sie hoffte wohl auf den baldigen Umzug in die neue Wohnung, die der Vater angekündigt hatte. Johannes müsste sich dann nicht wegen der niedrigen Verandatür bücken, um einzutreten. Eine solche Szene hatte Gisela stets vor sich, wenn sie an die Begegnung dachte. Verlegenheit verursachte ihr auch der Umstand, dass Johannes noch verheiratet war. Besonders die Mutter würde mit Fragen bohren, auf die sie selbst keine Antwort wusste. Sie würde aufwühlen, was sie bei sich gerade ruhig gestellt hatte.
”Ich stell euch Johannes vor, wenn wir in der Wohnung wohnen“, sagte sie leichthin. Auffahrend entgegnete die Mutter: „Dann braucht der Herr auch nicht mehr zu kommen.“ Dabei riss die kleine rundliche Frau ihre braunen Augen weit auf und starrte der Tochter ins Gesicht. Da begriff die, dass die Mutter ihrem Johannes die Schuld an der Heimlichtuerei gab. Sie vermutete wohl, dass ihm ein Besuch in der Laube als Zumutung erscheinen würde. Gisela beeilte sich, das Gegenteil zu versichern und kündigte an, dass sie ihn bald kennenlernen würden.
Johannes kam mit einem großen gelben Herbstasternstrauß für die Mutter. Die kleine Frau verschwand fast dahinter, wirkte verlegen, als sie ihn entgegennahm. Sie stand in der Verandatür, von der es in die schmale Wohnküche ging. Dahinter lag das kleine Wohnzimmer, in dem es behaglich warm war von einem braunen Kachelofen. Der Kaffeetisch war gedeckt, die Mutter hatte ihren Mohnkuchen gebacken und man saß um den ausziehbaren Tisch herum. Johannes lobte die Behausung, war überrascht, dass alles selbst gebaut war, fand es praktisch und sauber bei ihnen. Die Eltern erzählten vom Umbau vor einigen Jahren, der durch Kriegseinwirkungen notwendig geworden war. Die 1926 für den Sommer erbaute Laube, hatte der Vater in seinen Arbeitslosenjahren mit Brettern umkleidet, sie notdürftig für den Winter hergerichtet. Infolge der Erschütterungen durch niedergehende Bomben war die gemauerte Wand zwischen innerer und äußerer Bretterwand eingefallen, man konnte es an Ausbuchtungen erkennen. Der Umbau ging unter großen Schwierigkeiten vonstatten, es fehlte an Material und am Geld. Jeden Stein putzten die Eltern selber,