Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold страница 15

Автор:
Серия:
Издательство:
Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold

Скачать книгу

Affe nicht“, fügte sie lachend hinzu. Gisela gab dem werdenden Wesen den Namen Schlabumster, männlich wie weiblich zu gebrauchen. Sie wusste nicht, woher er ihr gekommen war, er verschwand mit der Geburt des Kindes. Während der Zeit der Schwangerschaft bürgerte er sich zwischen ihnen ein.

      So begann das Jahr 1960 für sie mit einer großen Erwartung auf Kommen-des. Sie lebte in dem Gefühl, das wirkliche Leben vor sich zu haben. Sie wusste damals nicht, dass dieses Jahr später zum „Jahr der afrikanischen Unabhängigkeit” erklärt werden würde, weil 16 afrikanische Staaten die Ketten ihrer kolonialen Abhängigkeit zerbrachen. Wenn sie es gewusst hätte, dann hätte sie ihre hoffnungsvolle Erwartung auch mit diesem antikolonialen Aufbruch in Beziehung gebracht. Denn so, wie in Afrika die Völker die Geschicke in die eigenen Hände nahmen, war auch sie dabei, ihr Leben zu gestalten.

       Aufbruch

      Zu Beginn des Jahres hielt das führende Politbüromitglied Kurt Hager im Großen Hörsaal in der Taubenstraße, im ehemaligen Bankgebäudes Hardy & Co., eine Rede. Gisela war zu der Veranstaltung nicht zugelassen, weil sie der führenden Partei nicht angehörte. Herr Kobus vermittelte in der Dienstbesprechung, worum es ging. Er sprach von der Notwendigkeit, den dialektischen Materialismus noch besser als Kompass für das gesamte Leben zu nutzen. Er forderte dazu auf, die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung zu analysieren und zu sehen, dass diese unabdingbar zum Sozialismus hinstrebe. Auch Johannes sprach zu ihr darüber, wie er sich den neuen Anforderungen stellen würde, die vor ihm als Philosoph standen. Er musste sich auf die Thematik seiner Dissertation konzentrieren, würde die philosophischen Grundlagen der Friedenspolitik ausarbeiten. Damit könne diese noch erfolgreicher weitergehen. Die Arbeit würde er planmäßig abschließen, sonst drohe ein Parteiverfahren. Das hatte er auf der Parteischule erlebt, es dürfe sich nicht wiederholen. Er sprach mit großer Ernsthaftigkeit, aus der Gisela entnahm, wie wichtig ihm die Sache war. Sie nahm sich vor, ihn zu unterstützen, wollte seine Arbeit auf keinen Fall behindern. Es interessierte sie, womit er sich zu beschäftigen hatte. Er war dabei, dem Charakter unserer Epoche auf die Spur zu kommen, die ganz und gar unvergleichlich war, wie er ihr gegenüber betonte. Darin folgte sie ihm unbedingt, denn, dass mit ihnen hier etwas Neues, Nicht-da-Gewesenes begann, spürte sie schon, wenn sie in sich hineinlauschte.

      Sie würde ihm eine Bibliographie zu seinem Thema zusammenstellen. Dabei sah sie sich allerdings unerwarteten Schwierigkeiten gegenüber. Die Begriffe, mit denen sie es hier zu tun hatte, waren im Verständnis ihres Lehrers, der ihr die Grundregeln zur Systematisierung wissenschaftlicher Disziplinen beigebracht hatte, nicht vorgekommen. In ihren Aufzeichnungen fand sie als philosophische Stichworte Erkenntnistheorie, Ethik, Geschichte der Philosophie, Logik und Naturphilosophie. Es war kein Begriff darunter, der irgendwie an „Epochenproblematik” erinnerte, so hatte Johannes sein Thema für sie in Kurzform gebracht. Auch der große Brockhaus von 1932, in den sie trotz Johannes´ Warnung schaute, führte nicht weiter. Ein einziger Satz stand hinter dem Wort Epoche, das auf seinen griechischen Ursprung zurückgeführt wurde: „Der Zeitpunkt eines Ereignisses, von dem eine Zeitrechnung oder Ära ausgehen kann“, stand da zu lesen. Das hieß, dass es unterschiedliche Vorstellungen von epochalen Ereignissen geben konnte. Diese Entdeckung gefiel ihr nicht, sie wollte in ihrem Bild von der Welt, sich und ihre eigene Bedeutung bestätigt finden. Deshalb hielt sie sich an das, was Johannes ihr sagte. Er nannte ihr Autorennamen, sie suchte deren Bücher, die sich mit der Rolle der Technik beschäftigten. Einige dieser Bücher malten ein düsteres Bild von der Zukunft der Menschheit. Auch das missfiel ihr, weil sie davon überzeugt sein wollte, dass alles irgendwie gut ausgeht. Zwar schienen einige Dinge, wie die Anhäufung von gefährlichen, vernichtenden Waffen in der Welt, denen Recht zu geben, aber Johannes konnte ihr erklären, dass sie hier nur den Untergang ihrer eigenen Klasse, den der Kapitalisten, verallgemeinerten und dass uns das überhaupt nicht betraf. Denn durch uns vollstreckte die Arbeiterklasse ihre historische Mission, die ihr selbst und der ganzen Menschheit die Befreiung bringen würde. „Und wir beide, ich und du, gehören dazu“, beschloss er seine Betrachtungen. Sie war’s zufrieden, beruhigte sich bei seinen wortreichen Erklärungen und hatte die optimistische Zuversicht wieder, die sie haben wollte. Allerdings kamen ihr Zweifel, was sie selbst und ihre historische Rolle betraf. Sie war so voller Hemmungen und Wissenslücken, dass sie an ihre Bedeutung nicht recht glauben konnte. Aber es spornte sie irgendwie an, einem historisch und wissenschaftlich begründeten Bild von ihr ähnlicher zu werden. Auf jeden Fall war ihre helle Neugierde für philosophische Fragen geweckt, in denen sie sich wiederzufinden hoffte.

      Johannes las jetzt nach ihrer Literaturliste. Er exzerpierte Bücher und referierte ihr die Inhalte, wenn sie abends nach Hause gingen, in die elterliche Wohnung, wo sie in ihrem kleinen Zimmer wie Eheleute lebten. Obwohl er noch nicht geschieden war, wusste man im Institut, dass sie zusammengehör-ten. Es machte Gisela nichts mehr aus. Sie fand wie Johannes, es ginge nur sie beide an.

      An einem Februartag stürzte Johannes gegen Mittag in den Lesesaal. Sie war allein dort, hatte, trotz der klirrenden Kälte draußen, die Fenster geöffnet. Da er die ganze Woche in Seminaren gesessen hatte, war sein Arbeitsplatz hier verwaist. Er ging auf sie zu, nahm sie kurz in seine Arme, hielt sie ein Stück von sich entfernt, schaute auf sie herunter, während er sprach: „Ich habe soeben ein großartiges Angebot bekommen. Ich hoffe du verstehst das!“ Sie blickte überrascht und neugierig zu ihm auf, während er nicht mehr in ihr Gesicht schaute, sondern seine Augen an den Bücherwänden entlang gleiten ließ. Dabei erzählte er von der angebotenen Gelegenheit, für zwei Jahre nach Moskau delegiert zu werden, um dort die Dissertation zu beenden und zu verteidigen. Es sei eine Auszeichnung, betonte er. Obwohl der Lehrgang erst im Herbst beginne, bekomme er die Chance, schon bald, im März, dorthin zu reisen, um bis zum Herbst seine Russischkenntnisse zu vervollkommnen. Er sprach begeistert von solcher Aussicht, malte aus, dass es auch für sie beide gut sei, denn sie könne ihn besuchen dort. Außerdem würde er ein Jahr für seine Aspirantur gewinnen, die er dann erst im Sommer 1962 abschließen müsse und nicht, wie geplant, ein Jahr früher. Wie er das schaffen solle, wisse er ohnehin nicht, gab er ihr jetzt zu verstehen.

      Ihr war, als schlüge er ihr vor den Kopf. Sie schaute mit aufgerissenen Au-gen auf ihn. Das Herz pochte, Beklommenheit stieg ihr den Hals hoch, sie konnte nichts sagen. Sie hörte viele Worte, verstand, dass er für sich selbst sprach. Sie und das Kind in ihr spielten keine Rolle. Nach einer Weile, er machte eine Pause beim Reden, ließ sie ein langgezogenes „Ja ..., wenn du meinst“ vernehmen. Dann fiel sie wieder in Schweigen. Plötzlich hörte sie wieder einen Satz von ihm. Er lautete, es sei noch nicht entschieden, ob er wirklich in Frage komme für diese Auszeichnung.

      An diesem Abend ging sie allein ihren Nachhauseweg. Er übernachtete im Internat, weil er sich noch für seine Seminare vorbereiten musste und morgen gleich am Ort sein wollte. Sie behielt seinen letzten Satz im Gedächtnis. Der krallte sich fest in ihr und blieb. Sie wollte ihn behalten, bis alles wirklich entschieden war. Sie hoffte, jemand sei auf ihrer Seite und ließ ihn nicht fahren. Er war nicht auf ihrer Seite, das hatte sie deutlich gespürt, als er begeistert von seinen Aussichten sprach.

      Es war gut, dass sie den Weg ohne Irene machen konnte. Der würde sie so bald nichts sagen. Auch vor den Eltern würde sie schweigen. Über ihre Schwangerschaft hatte sie mit Irene gesprochen. Die wünschte sich von ihrem Joachim auch ein Kind. Aber sie wollten warten, bis sie eine Wohnung hätten, wollten zuvor heiraten. Vorher würde sie dann allerdings hier ihre Arbeit aufgeben, denn dieser ‚Parteiladen’ würde kaum tolerieren, dass ihr Achim jetzt bei Siemens arbeitete. Er verdiente dort das Doppelte wie bei Sekura. Gisela wunderte sich über die Bedachtsamkeit und die vielen wenn und aber, die Irene aufhäufte. Wie unbedacht war sie an alles gegangen. Und auch ihr Johannes, der mehr Lebenserfahrung hatte, sprach von einer eigenen Wohnung nur ein einziges Mal, als er überlegte, wo er seine Möbel aus der verflossenen Ehe unterbringen konnte.

      In den Wochen, bis Gewissheit wurde, was sie fürchtete, behielt sie ihr Geheimnis und ihre Angst für sich. Unablässig kreisten ihre Gedanken um die Sache. Nur für kurze Augenblicke, wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte, rückten sie in

Скачать книгу