Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
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Nach einer Weile des Schweigens sagte die Mutter zu Gisela: „Ich sage dir das, damit du weißt, du kannst mit deinem Kind bei uns wohnen, so lange du willst und du musst nicht eine Ehe schließen, die du vielleicht bereust.” Gisela nickte dazu nur, sie konnte nichts erwidern. Wollte die Mutter über ihre Beziehung zu Johannes mit ihr sprechen? Wollte sie sie auf kommende Enttäuschungen vorbereiten? Sie wartete angespannt, aber es kam nichts weiter, weder vom Vater, der genickt hatte, noch von der Mutter. Sie schien keine Antwort zu erwarten, ließ sich vom Vater ein Stück der „Wochenpost“ geben, in deren Gerichtsbericht sie sich vertiefte.
Es tat Gisela gut zu wissen, dass sie auf die Hilfe der Eltern rechnen konnte. Eigentlich hatte sie es auch nicht anders erwartet. Konventionelle Bedenken gegen eine ledige Mutter waren in ihrer Familie niemals laut geworden. Die Mutter hatte den um zehn Jahre älteren Bruder von Gisela unverheiratet zur Welt gebracht. Sie selbst hatte keine Eltern mehr, die sich kümmern konnten, sondern stand ganz allein. Über die Rolle, die der Vater damals gespielt hatte, äußerte sie sich nicht so genau. Einmal ließ sie Gisela wissen, dass der noch ein richtiger Kindskopp gewesen, es zum Teil auch geblieben sei. Den Bruder hatte sie in einer Hebammenlehranstalt in Neukölln zur Welt gebracht. Dort musste sie die Entbindungskosten als Hausmädchen abarbeiten, blieb dort vom siebten Schwangerschaftsmonat bis das Baby ein viertel Jahr alt war. Wöchnerinnen betreuen und die Station säubern, gehörte zu ihren Aufgaben, bis sie selber ihr Kind bekam. Ein paar Pfennige, die sie für die Muttermilch bekam, die ihr Kind nicht brauchte, war das Kapital, mit dem sie dann zu Schwester Lucie in die Kellerwohnung des Vaters zog, der inzwischen gestorben war. Abwechselnd trugen die Schwestern die „Berliner Morgenpost“ aus, versorgten nebenbei das Baby. Dessen Vater war auf der Walze, fand Arbeit im Ruhrgebiet. Dort musste er sich ein Bett mit einem Kumpel teilen, der die entgegengesetzte Schicht wie er selbst hatte. Nach einem halben Jahr kam er zurück, wollte nun mit der Mutter ein Nest bauen. So stand es jedenfalls in einem Brief, den Gisela irgendwann gefunden und in ihrer Neugierde gelesen hatte. Aber in Berlin fand der Vater keine Arbeit, auch in die Kellerwohnung konnte er nicht ziehen. Da hörten sie durch Zufall von der Laube. Das Geld für den Kauf borgten sie von Vaters Eltern, die streng auf Rückgabe sahen, denn auch sie hatten nicht viel. Wenn Gisela an das Leben der Mutter dachte, an die Erzählungen über die winterlichen Zustände in der Sommerlaube, an Kälte und Wanzen, konnte sie nicht umhin, ihre eigenen Sorgen für gering zu halten. Daher ließ sie das Selbstmitleid, das sie manchmal spürte, nicht aus sich heraus.
Die Mutter gab ihr mit wenigen Worten die Gewissheit, dass sie ein normales Leben führen, ihr Kind in aller Ruhe zur Welt bringen konnte.
So verging die Zeit. Im August kam Johannes für drei Wochen, sie stand auf dem Bahnsteig, als er aus dem Zug stieg. Er ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Glücklich lehnte sie sich an ihn.
Für einige Tage fuhren sie mit dem Zelt an einen See. Es erinnerte sie an vergangene Tage, deren Stimmung sich allerdings nicht mehr herstellte. Das Schlafen auf dem flachen Boden bereitete ihr jetzt Beschwerden. Die Augustnächte waren kühl, aber Johannes bestand darauf, ihre Nacktheit zu spüren. Sie verhüllte sich, kroch in sich hinein, nahm seine Hand, damit er die Bewegungen in ihr spüren konnte. So ruhig nebeneinander lagen sie nicht lange, weil Johannes zu ihr drängte, er wolle die sehnsüchtig leeren Moskauer Nächte nachholen, sagte er ihr.
Tagsüber rang er schwer mit der Aufgabe, einen Artikel für die „Zeitschrift für Philosophie” über die philosophischen Grundlagen der friedlichen Koexistenz zu schreiben. Den wollte er dem Redakteur am Ende seines Urlaubs übergeben. Er saß vor einer Kiste, auf der sein Schreibpapier lag und notierte Gedanken, die er Gisela zuvor referiert hatte. Kurze Zeit saß er so, dann sprang er auf, lief über die Wiese bis zum Waldsaum, kam zurück, lief wieder dorthin. Sie durfte ihn nicht ansprechen, wenn er so mit Gedanken rang. Sie ging in den Wald, suchte Pilze, säuberte sie, bereitete das Mittagessen. Hatte er eine neue Nuance in seine Gedanken gebracht, teilte er ihr die mit. Sie hörte ihm zu. Einmal widersprach sie, da gab er lange und wortreiche Erklärungen ab. Daraufhin wurde sie vorsichtiger, hielt sich zurück, denn sie wollte zu ihrer Lektüre kommen, die sie mit sich selbst verband. Sie las Rollands „Verzauberte Seele”. Dann ging sie ins Wasser, schwamm weit in den See hinaus, trotz ihres dicken Bauches. Diesen Urlaub hatte sie sich anders vorgestellt.
Nach zwei völlig verregneten Tagen brachen sie ihr Zeltleben ab. Johannes beschuldigte die Kiste, dass er nicht das aufs Papier bringen konnte, was er dachte. Er verbrachte die restlichen Tage des Urlaubs in ihrem Lesesaal, schrieb dort an seinem Artikel. Es erleichterte sie, in ihrem bequemen Bett zu liegen, in der Nähe der Babysachen zu sein. Kurz bevor er wieder abfuhr, kauften sie noch das Kinderbett, vervollständigten die Babyausstattung, für die sie auf einen Stempel hin 500 Mark bekam.
Als die Wehen begannen, saß sie beim Friseur. Sie wollte sich ihre blonden Haare noch einmal kurz schneiden lassen, um längere Zeit Ruhe zu haben. Plötzlich spürte sie ein Ziehen im Unterleib, es erinnerte an die Schmerzen, mit denen sich die Mensis ankündigte. Es hielt einige Zeit an, kam nach einer Pause wieder. Da saß sie schon unter der Trockenhaube, konnte gleich nach Hause gehen. Den Abend und die Nacht hindurch verbrachte sie mit diesem halbstündigen Rhythmus. Zwischendurch schlief sie ein, bis gegen Morgen das Ziehen kräftiger wurde, der Abstand hatte sich auf zwanzig Minuten verkürzt. Jetzt sagte sie der Mutter Bescheid, die Gisela nicht zu früh beunruhigen wollte. Als sie in den Vormittagsstunden in den roten Backsteinbau des Oskar-Ziethen-Krankenhauses kam, gab es viertelstündige Intervalle. Bei der Untersuchung stellte die Hebamme eine markstückgroße Öffnung der Gebärmutter fest, bereitete sie auf eine lange Wartezeit vor. Sie äußerte sich skeptisch über die schmerzarme Geburt, von der Gisela ihr erzählte, aber lobte die Technik der Bauchatmung, mit der die junge Frau der nächsten Wehe standhielt. Dabei ging Gisela auf dem Flur hin und her, hielt sich die Hüften und ließ die Luft in den Bauch. Die Schmerzen wurden heftiger, die Abstände der Attacken kürzer. Sie hatte das Gefühl, es würde ihr den Unterleib auseinandertreiben. Am späten Abend ergab die Untersuchung eine handtellergroße Öffnung, man rasierte ihr die Schamhaare. Zwischen den Schmerzattacken spürte sie eine unendliche