Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold

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den Tisch, meinte, damit nichts anfangen zu können. Er tat das nicht mit besonderem Nachdruck, aber doch so, dass seine Geste die Worte deutlich unterstrich. „Ich wollte nicht alle möglichen Titel zur Ethik, sondern ich arbeite zum Menschenbild, zum sozialistischen“, setzte er nach. Dann blieb er eine Weile stumm, drehte sich um und ging zur Tür. Gisela saß wie erstarrt. Das hatte sie nicht erwartet, dass man so unzufrieden mit ihr war. Natürlich, sie wusste wenig über Philosophie und Ethik, wenn Johannes in ihrer Nähe wäre, könnte er ihr helfen, mehr zu wissen. Er hatte sie zu der neuen Aufgabe ermuntert, in keiner Weise Bedenken vorgebracht. Sie legte die Papierseiten in den Tischkasten, wollte warten, bis sie mit jemandem darüber sprechen konnte. Sie fürchtete, dass der Ethik-Genosse schon mit ihrem Chef geredet hatte. Nach mehreren bangen Tagen, an denen sie wartete, er würde sie auf die Sache hin ansprechen, vertraute sie Anni die Unzufriedenheit des leitenden Ethikers mit ihrer Arbeit an. Dabei schwächte sie dessen Kritik etwas ab und beschloss ihren kurzen Bericht mit dem Eingeständnis: „Ich versteh´ nichts von Philosophie, aber ich möchte etwas davon verstehen.“ Anni schaute braunäugig auf die junge Kollegin, zog die Augenbrauen hoch, wie sie es stets tat, wenn sie überrascht war und sagte: „Dann wirst du es auch lernen.” Sie versprach, mit einem führenden Philosophen zu reden, sie müsse zuvor natürlich den Chef informieren, denn ohne ihn ginge es nicht.

      Schon bald rief der sie in das Zimmer, in dem bisher Herr Kobus gesessen hatte. Bot ihr einen Stuhl an, sagte, dass er mit den Genossen von oben gesprochen habe. Nach kurzem Erstaunen begriff sie, dass er mit oben die Philosophen meinte, die im 4. Stockwerk des Gebäudes in der Taubenstraße untergebracht waren. Sie wurde ganz aufmerksam, begriff, es ging um sie. Zu-nächst sprach er von einem Missverständnis bei der Übermittlung der Auf-gabe für sie, es tue ihm leid, dass das so schief gelaufen sei. Es ginge nicht um Ethik schlechthin, was soviel wie Moral heißt, was sie wohl wisse, sondern um die sozialistische Ausprägung davon. In ihrem Zentrum stünde der sozialistische Mensch, die neue Persönlichkeit, die jetzt schon allerorten sichtbar würde. Die Genossen Philosophen würden das Werden dieses neuen Menschen mit ihren Arbeiten nach Kräften unterstützen, die besten Erfahrungen unter die Leute bringen. Und sie sollte diesen Vorgang bibliographisch unterstützen. Damit sie dafür bessere Voraussetzungen erhalte, als bisher, werde man sie zu Studien anleiten. Sie sollte sich beim obersten Ethiker melden, morgen schon. Gisela schaute ihm geradewegs ins Gesicht, war erleichtert über seine Mitteilung.

      Man gab sie also nicht auf, traute ihr zu, auch Schwieriges zu lernen. Sie spürte eine dankbare Regung gegenüber ihrem neuen Chef, der ihr sonst fremd war. Eine freudige Spannung auf das, was kommen sollte, breitete sich in ihr aus. Sie hielt das Gespräch nach dieser Mitteilung für beendet, denn auch der Chef schwieg. Schon malte sie sich ihren morgigen Gang in die luftige Philosophenhöhe aus, wäre jetzt gern mit ihrer Erwartung allein gewesen. Aber nun legte der Chef erst richtig los, nahm den Faden von vorhin wieder auf, umriss vor ihr das Bild des neuen Menschen, an dem sie mitarbeiten sollte: „Vorwärts stürmend und kämpferisch, den Mond umfliegend und die Wüsten bewässernd, solidarisch gegenüber Freunden und Genossen, unnachsichtig gegen Feinde der Menschheit und des Fortschritts und den neuen Moralgesetzen verpflichtet, wie sie von Walter Ulbricht, dem Arbeiterführer, geschaffen worden sind. – So sieht er aus, der neue, sozialistische Mensch”. Er stand dabei, gestikulierte mit weit ausgreifenden Armen. Auch Gisela war aufgestanden, war schon an der Tür, wollte den Schritt auf den Korridor machen, als sie sich noch immer aufgehalten fand. Sie legte die Hand auf die Klinke, zog die Tür einen Spalt auf, aber auch das machte auf den Mann keinen Eindruck. Er sprach wie für einen ganzen Saal und sie merkte, er würde so bald nicht aufhören.

      Der Vergleich mit einem Siruptopf, in den sie geraten war, kam ihr in diesem Moment nicht in den Sinn. Aber die deutliche Empfindung davon hatte sie. Die Worte, die Worte kamen erst viel später.

       Von Reiseplänen und Reisen

      Der April näherte sich seinem Ende und Gisela wartete ungeduldig auf ihre große Reise. Sie besaß schon die Fahrkarten und die Reservierung für den Schlafwagen, der sie in zwei Nächten und einem Tag nach Moskau bringen sollte. Es war das erste Mal, dass sie Johannes besuchte, auch fuhr sie das erste Mal in die ferne Stadt. Er schrieb ihr, sie würden über den 1. und 2. Mai, dem Internationalen Kampftag der Arbeiter, in Moskau bleiben und dann zwei Wochen mit einem Freundschaftszug nach Südosten fahren, bis nach Baku, zum Kaspischen Meer.

      Eine gewisse Verlegenheit empfand sie, wenn sie daran dachte, wie sie den Eltern die Notwendigkeit der Reise nahebringen sollte. Der Mutter würde sie drei Wochen lang allein die Babypflege überlassen, Ingolf würde am Abend vergeblich auf sie warten. Aber die Mutter reagierte großzügiger als erwartet. Gisela solle ruhig ihren Mann besuchen, sich umschauen auf ihrer Reise. „Um den Jungen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Er ist gut aufgehoben hier bei uns“, meinte sie ruhig und gleichmütig. Der Vater erinnerte sich an eigene Reisepläne, von denen die Tochter schon mehrmals gehört hatte. Jetzt hörte sie mit neuer Aufmerksamkeit zu. Dem Ruf der Sowjetmacht folgend, wollten sie, eine Gruppe Fichte-Sportler, um 1930/31 im Kaukasus eine Kommune gründen. Die Eltern, die weder Arbeit noch Wohnung, nur Giselas Bruder hatten, wollten mit. Mit Werkzeugen und Kleintieren waren einige voraus gezogen, von denen die Eltern aber dann ein Jahr lang nichts hörten. Dann kam ein Brief von Erwin, dem Freund. Die Werkzeuge, die sie vorausgeschickt hatten, wären nicht eingetroffen, sondern spurlos verschwunden. Die Verhältnisse wären unvorstellbar schwierig, sie sollten bleiben, wo sie sind, mit dem kleinen Kind, schrieb er den Eltern.

      Ihren Jugendplan besprachen sie in jedem Jahrzehnt ihres Lebens neu. Zu-letzt vor einigen Jahren erst, als Hertha Tieke, eine von denen, die damals gereist waren, überraschend bei ihnen vorsprach. Es war 1956, sie kam aus einem fernöstlichen Lager in die DDR. Sie stand eines Tages vor der Lauben-tür. Die Hertha ist zurück, hatte der Vater gerufen, während er die Frau hin-einließ. Sie saßen lange in der Wohnküche zusammen, erzählten. Ihr Mann, ein Ingenieur, war 1939 an Hitler-Deutschland ausgeliefert worden. Sein Schicksal blieb ungewiss, wie auch das des einzigen Sohnes, der von der Mutter getrennt worden war. „Wer weiß, was uns geblüht hätte“, meinte der Vater, nachdem sie gegangen war. Dann setzte er für die Tochter hinzu, „Aber jetzt, nach Stalin, ist es anders.“

      Die Bibliothekskolleginnen beglückwünschten Gisela zu ihrer großen Reise. Genosse Wirker erzählte ihr von der Freundschaftswoge, die ihm, als Mitglied einer Delegation entgegengeschlagen war. „Es waren unvergessliche Tage“, beschloss er seinen Bericht, in den Helga Pietsch einstimmte. Man nahm Gisela das Versprechen ab, bei der Rückkehr viel zu erzählen und sie gab es bereitwillig.

      Als Johannes sie an einem grauen Aprilmorgen auf dem Bjelorussischen Bahnhof in seine weiträumigen Arme schloss, fühlte sich Gisela angekommen. Sogleich erzählte er ihr von den Vorbereitungen, die er für ihre Ankunft getroffen hatte. Seinem Zimmergenossen Mamadjor, der aus dem fernen Tadschikistan kam, besorgte er eine andere Schlafstelle, weil er dessen Bett für Gisela brauchte. Das war nicht leicht, weil das Internat voll belegt war. Auch andere Genossen aus fernen Regionen hatten ihre Frauen über die Feiertage hier, andere waren noch vom vergangenen Jahr geblieben, gar nicht wieder abgefahren. Johannes würde für Mamadjors Frau, die im Sommer ein ärztliches Praktikum absolvieren werde, ebenfalls das Feld räumen. Für Gisela werde Mamadjor mit seinen tadschikischen und usbekischen Freunden ein Plow-Essen veranstalten.

      Dann werden wir die große Maidemonstration erleben. Auch darauf war Gisela gespannt.

      In ihren späteren Erzählungen rangierte das Plow-Essen ganz vorn. Die Männer bereiteten es selbst zu. Reis mit Hammelfleisch und verschiedenem Gemüse gab es aus einer großen Schüssel. Sie stand in der Mitte des Tisches und jeder nahm von seiner Seite eine Handvoll Reis und führte sie zum Mund. Bei Johannes und Gisela gab es eine Krümelspur über den Tisch, die Männer waren geschickter im Umgang mit dem Gericht. Sie waren glutäugig, freundlich und lebhaft, als sie vom Leben ihrer Familien im mittelasiatischen Hochland erzählten. Ihre Väter und Brüder waren Hirten, die Familien lebten als Nomaden. Sie sprachen stolz über ihre Studien, waren voller Hochachtung

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