Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
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Am nächsten Abend sah man sich bei der Vorabendfeier zum 1. Mai wieder. Sie waren auch jetzt freundlich, allerdings auf eine eher unverbindliche Wei-se. Johannes tanzte den ganzen Abend mit ihr, war stolz, sie seinen deutschen und russischen Freunden vorführen zu könne. Sie kamen spät ins Bett, schliefen dann noch nicht und versäumten deshalb am Morgen den Zeitpunkt für die Maidemonstration. Spät machten sie sich auf, kamen nicht mehr in die Nähe des Zentrums. Roter Platz, Manegeplatz, Kreml, der ganze innere Ring war abgesperrt für den Menschenzug. Sie sahen Luftballons und Transparente aus der Ferne, gingen zum Ufer der Moskwa. Etwas unangenehm war es ihnen, dass sie so am Rande des großen Ereignisses blieben, aber es war nun nicht mehr zu ändern und selbst Johannes fand es verzeihlich, weil sie sich so selten hatten. Um dieses Versäumnis vor den Kollegen zu verbergen, beschied Gisela deren Fragen mit Floskeln, wie sie in der Zeitung standen. Alles sei farbig, großartig, gewaltig gewesen. Sie war erleichtert, dass nicht weiter nachgefragt wurde, vermied es, darauf zurückzukommen. Von den Moskauer Tagen erwähnte sie den Besuch im Mausoleum, in dem nur noch die Mumie Lenins aufgebahrt lag. Stalin hatte man an die Kremlmauer umquartiert, worüber sich Mamadjor mokierte. Man hätte es belassen sollen, meinte er. Er zählte die Stunden zusammen, der neue Parteimann habe 16 Stunden lang auf dem XXI. Parteitag der KPdSU geredet. Das kommentierte er mit den Worten: „Der Kult um Stalin ist beendet, jetzt beginnt der um Chrustschow.“ Johannes fand solche Reden lästerlich, unangebracht und meinte, über bestimmte Fragen könne man mit den Tadschiken nicht reden. Sie wichen dann immer in ein undeutbares Lächeln aus. Gisela wusste vom jüngsten Parteitag nur, was Genosse Wirker an sie als politische Information gegeben hatte. Sie nahm widerspruchslos zur Kenntnis, dass von diesem Ereignis nun eine neue Entwicklungsetappe ausgehen würde. Auch Johannes sah es so und Mamadjor hatte dabei nicht widersprochen, jedenfalls bekam sie nichts davon mit. Ehrlicherweise konnte sie von keinem besonderen Eindruck beim Besuch des Mausoleums berichten. Nur, dass sie in einer kleinen Gruppe von einem besonderen Führer an der unendlich langen Menschenschlange, die sich über den Roten Platz ringelte, vorbei, direkt vor das Gebäude geführt wurden, berührte sie etwas peinlich. Vor allem befürchtete sie, dass sich die Leute über ihre Bevorzugung erregen würden. Aber alle blieben ruhig und gleichgültig und da fand auch sie es in Ordnung so. Ja, die Sowjetmenschen sind gastfreundlich, lassen ihren ausländischen Gästen den Vortritt, sind von großer Bescheidenheit.
Viel mehr, als dass sie bei Lenin war, konnte sie hiervon nicht erzählen. Ihr Unbehagen über den bevorzugten Zugang fand sie nicht mitteilenswert. Anderes betraf nur sie und Johannes, verdiente nicht das Interesse anderer. Einen halben Tag lang, Johannes war zum Unterricht, ging sie allein durch die große Stadt, fragte sich bis zur Tretjakow-Galerie durch. Sie war von sich selbst beeindruckt, weil sie sich allein zurechtfand. Johannes teilte ihre Begeisterung gar nicht. Er hoffte sie nach dem Unterricht wartend vorzufinden, war enttäuscht. Als sie am späten Nachmittag zurückkehrte, äußerte sich seine Sorge als Wut, dass sie ihn hier warten ließ. Er wollte ihr die Galerie zeigen, war über ihre Eigenmächtigkeit enttäuscht, hoffte, ihr einiges erklären zu können. Damit unterbrach er ihren Bericht über Bilder, die ihr besonders gefallen hatten. Ihre Äußerungen waren ohnehin nur dilettantisches Gequatsche, damit wolle er sie nicht kränken, gab er zu verstehen, aber so war es eben, wenn jemand nichts verstünde. Sie schwieg sogleich, behielt ihre Ein-drücke für sich. Gab ihm lediglich zu verstehen, dass sie sich in Moskau auch allein zurechtfinden wollte. Das ließ er gelten, brachte noch einmal seine Enttäuschung über die toten Stunden zum Ausdruck, die er gewartet hatte.
Am Abend gingen sie ins Bolschoj Theater. Johannes hatte die Karten von einem Genossen bekommen, der einen Genossen kannte, dessen Frau mit dem Verkauf von Theaterkarten befasst war. „Ich musste einiges aufwenden“, ließ Johannes sie wissen, aber sie fragte nicht, was er meinte. Man spielte „Pique Dame”. Den größten Eindruck hinterließ ihr ein großer runder Mond, den man über den Bühnenhorizont gleiten ließ. An dieser Stelle lachte auch Johannes, der das Ganze für theatralisch, ja kitschig erklärte. Für sie war es ohnehin schwierig, Musik, Gesang und Bühnengeschehen als Ganzes wahrzunehmen, die Art und Weise, wie Menschen in Opern singend starben befremdete sie.
Die zwei Wochen mit dem Touristenzug durch den Süden Russlands zum Kaspischen Meer, durch das Kaukasus-Massiv bis zum Schwarzen Meer und wieder zurück nach Moskau erschienen in ihrer Erinnerung wie ein Film. Die Eindrücke von Baku, den Moscheen und Ölanlagen, die sie gesehen, vom Basar in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, vom Kaspischen Meer, das langsam austrocknete, wie ihnen ein einheimischer Reiseleiter erklärte, von den armenischen Baumwollfeldern, aus Tbilissi, von den Kaukasusbergen und den Orten am Schwarzen Meer waren zu kurz und zu flüchtig, um sie länger zu beschäftigen. Als wichtigster Stimmungseindruck blieb ihr der überraschende Frühling, den sie nach dem eher kalten, grauen Moskau so nicht erwartet hatte. Zwar hatte Johannes davon gesprochen und sie hatte mit ihrer Garderobe diesen Fall bedacht, aber sie stand ihm dann vollkommen ungewappnet, fassungslos gegenüber. Ein ungeheures Himmelblau, die Pracht von ihr nicht bekannten Blüten, ungewohnten Düften und Farben machte sie benommen. Sie erlebte das erst Mal eine solch tiefe Berührung durch Schönheit. Dabei steigerten sich die Eindrücke von der trockenen Klimazone des Kaspisees bis zu der subtropischen Vegetation von Suchumi. Ähnlich waren sich dagegen die Empfänge, die man in den Parteikomitees verschiedener Städte für sie, die Zugreisenden von der Universität „Völkerfreundschaft“, gab. Man war hier waggonweise gemischt: Chinesen und Vietnamesen, Inder und Afrikaner. Gisela und Johannes gehörten zum europäischen Waggon, in dem Tschechen, Bulgaren, Polen und Rumänen untergebracht waren. Sie bewohnten ein Abteil zusammen mit einem bulgarischen Ehepaar, das die Betten an der gegenüberliegenden Seite bezog. Nur wenig konnten sie sich mit denen verständigen, selbst die gewohnten Kopfbewegungen für ja und nein klappten nicht immer, weil sie bei den Bulgaren eine entgegensetzte Bedeutung hatten. Mit den osteuropäischen Gruppen wurden sie einem Reiseleiter zugeordnet, der die ortsüblichen Empfänge organisierte. Nachdem Gisela mehrmals erlebt hatte, wie das ablief, hätte sie sich am liebsten gedrückt, aber Johannes meinte, das ginge nicht. Man schlüge damit Freundschaftsgesten aus. Es gab viel zu essen und noch mehr zu trinken. Nach einem Ausflug durch das glühend heiße Tbilissi hatten sie sich verspätet und mussten sogleich Sto Gramm auf die Freundschaft und auf den leeren Magen trinken. Es reichte, um Gisela regelrecht umzuwerfen. Es brachte ihr für die restlichen Tage einen Darmkatarrh ein. Der beschäftigte sie anhaltend, zwang sie ständig, nach öffentlichen Toiletten zu suchen. Das war ein lästiges, ekliges Abenteuer, von dem sie zu Hause berichtete. Erstaunen hinterließen ihr auch Erlebnisse auf mehreren Basaren. Man wollte ihr Sachen, die sie am Leibe trug, auf der Stelle abkaufen. In Gudauta, an der Schwarzmeerküste, erbosten sich Frauen über ihre dreiviertel langen Hosen, ein Milizionär musste ihr beistehen. Überrascht war sie auch, dass sie mit ihren Russischkenntnissen hier so gar nichts anfangen konnte. Ein Markthändler gab ihr zu verstehen, sie seien hier keine Russen und wollten auch keinen Gebrauch von deren Sprache machen. Ihre spärlichen Kenntnisse reichten, um das Verächtliche seiner Rede mitzubekommen. Johannes erzählte ihr von den Widerständen, mit denen die Sowjetmacht hier unten fertig zu werden hatte. Durch Religion und Gewohnheiten hätte sich Rückständiges erhalten und diese Marktleute, Kleinhändler, wären ohnehin Träger reaktionärer Ideologien, das kenne man von uns auch. Die hier hätten eben noch gar nicht begriffen, welche Errungenschaft es war, zu einer Großmacht zu gehören, die gerade Lunik III in den Weltraum entsandt hatte. Im Übrigen dürfe sie solche Einzelheiten nicht verallgemeinern, der Fortschritt setze sich auf höchst widersprüchliche Weise durch, sie sehe es.
Auch über solche Beobachtungen sprach sie zu Hause. Denn über Dinge, die Johannes und sie betrafen, wollte sie nicht reden. Johannes erregte sich, dass es in diesem Freundschaftszug