Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
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In der Dienstbesprechung erläuterte Herr Kobus ein neues Dokumentations- und Informationssystem, das jetzt entstehen sollte. Ein neuer Leiter werde kommen, schon in der nächsten Woche. „Meine Zeit hier ist abgelaufen“, meinte er einsilbig. In der folgenden Woche schon stellte sich Freimut Wirker als der neue Chef vor. Er führte sich als Freund der Jugend bei ihnen ein, so wie Gisela ihn schon aus der FDJ-Gruppe kannte. Seine Arbeit zur Geschichte der Freien Deutschen Jugend würde er bald mit einem Diplom ab-schließen, die neue Funktion hier bei ihnen übernehmen und ein leistungsfähiges Informationszentrum aufbauen. Er sprach mit durchdringender Stimme, legte Pathos in seinen Tonfall, so dass seine Rede den kleinen Sitzungsraum ganz und gar erfüllte. Von den großen politischen Weltereignissen kam er schnell zu den Verhältnissen in ihrer Bibliothek. Sprach über die Ermordung Lumumbas, über die Heimtücke der imperialistischen Täter und betonte, dass all das den endgültigen Sieg der gerechten Sache in der Welt nicht aufhalten könne. Auch sie hier in der DDR würden daran mitarbeiten, denn sie befanden sich hier an einer wichtigen, höchst gefährdeten Nahtstelle. Er zog die letzte Plenartagung heran, berief sich auf Worte des führenden Genossen, sprach vom Aufschwung marxistisch-leninistischer Theorie, die der besseren Kenntnis gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze voranzugehen habe. Konsequenzen für ihre Arbeit in der Bibliothek kündigte er an. Der Bibliotheksbestand sollte in sechs kleine Handbibliotheken aufgeteilt werden. Außerdem sollte die bibliographische Abteilung erweitert werden, um mehr Auskunftsmittel zur Verfügung zu stellen.
Gegen den Plan, den Bibliotheksbestand in Handbibliotheken bei den Lehr-stühlen aufzusplittern, hatte sich Herr Kobus gewehrt. Er war nun nicht mehr hier, aber seine Stellvertreterin Traude Heim übernahm seine Rolle, warnte vor dem entstehenden Chaos, der Gefahr, dass die Bücher nach und nach verschwinden würden. Darauf entgegnete ihr der neue Chef, sie argumentiere vom rein bibliothekstechnischen Standpunkt, begriffe nicht, dass es um andere Beträge jetzt ginge, um eine erhöhte Effektivität wissenschaftlicher und agitatorischer Arbeit. Auch Anni und Edith pflichteten Traude bei, nannten das Vorhaben eine Irrsinnsaktion, während Helga, bemüht, ihrer Verantwortung als Parteiverantwortliche gerecht zu werden, den neuen Chef unterstützte. Dabei brachte sie ins Spiel, was Albert, ihr Mann aus dem großen Haus überbracht hatte. Es waren die gleichen Worte, die auch Wirker benutzte. Gisela hörte zu und schwieg. Sie konnte keine Meinung äußern, weil sie keine besaß. Einige ihrer Beobachtungen entsprachen dem, was die anderen anführten. Auch sie hatte erlebt, wie schnell Bücher verschwanden, verstellt oder mitgenommen wurden, mit mehr oder weniger böser Absicht. Man musste höllisch auf sie aufpassen. Aber wenn die Veränderung einem höheren Prinzip dienen sollte, war sie schon bereit, daran mitzuarbeiten. Warum nicht, man würde sehen, wie es lief, sagte sie sich und belächelte etwas die Vehemenz, mit der Traude gegen die Sache anredete. Dabei gestikulierte die mit Händen, hatte rote Flecke im Gesicht, die sie nicht schöner machten.
Wochen später brach ein großes Tohuwabohu in der Bibliothek aus. Für einige Zeit konnten die Bücher gar nicht benutzt werden. Alle Mitarbeiter räumten Bücher aus dem Kellergeschoß in den zweiten, dritten und vierten Stock, wo die Handbibliotheken eingerichtet wurden. In den Katalogen mussten die Zettel gezogen und die neuen Standorte der Bücher vermerkt werden. Sie alle waren in eingestaubte blaue Kittel gehüllt, liefen den ganzen Tag mit aufgekrempelten Ärmeln umher, transportierten Bücher. Während dieser Arbeit bereute Gisela ihre indifferente Haltung beim Streit um die Standorte, war sich aber nicht sicher, ob ihre Meinung etwas geändert hätte. Immerhin hielt die Mehrzahl der Bibliotheksmitarbeiter das jetzige Tun für überflüssig. Helga Pietsch half nur selten, war meist in wichtigeren Angelegenheiten unterwegs.
Das Durcheinander ließ auch Giselas wohlgeordneten Lesesaal nicht aus. Wichtige Fachlexika und Nachschlagewerke wurden entnommen, wanderten in andere Räume. Traurig blickte sie auf die Lücken in den Reihen, überlegte, wie sie das neu gruppieren konnte. Sie hatte sich nicht vorgestellt, dass es so ausgehen würde, als sie vor einigen Wochen dem Zusammenstoß der Meinungen gleichgültig zugehört hatte. Erst jetzt, während der schweren, lästigen Arbeit begriff sie, dass die Sache, die damals verhandelt wurde, auch sie betraf.
Bibliographien zu diesem oder jenem Thema hatten sie auch unter der Regie des alten Chefs erarbeitet. Der neue Chef wollte jetzt ein neues, größeres Informationssystem aufbauen. Er befragte die Bibliothekare nach ihren Interessen. Die entschieden sich für die Lehrstühle Ökonomie oder Geschichte. Gisela erklärte nach kurzem Bedenken ihr Interesse für die Philosophie.
Als Frau eines Philosophen wollte sie von der Sache mehr verstehen als bis-her. Wollte wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, erhoffte Antworten auf viele Fragen. Vieles hatte schon der Vater mit ihr beredet, wenn er sich über Ernst Haeckels „Welträtsel” oder über Goethes „Faust” äußerte. Dabei sprach er ernst mit ihr, wie mit einer Erwachsenen. Er erklärte ihr die Unterschiede von Mensch und Tier. Manchmal zitierte er Gorkis Wort „Ein Mensch wie stolz das klingt“ und fragte, ob der selbst immer daran geglaubt habe. Er berichtete Gisela von den bitteren Erfahrungen des Mannes und schloss mit den Worten: „Der Mensch kann auch ein Vieh sein!” Von den Familientreffen kannte sie seinen Zorn über Dummheit, Kurzsichtigkeit, Gedankenlosigkeit, Eigennutz und Lernunwillen der Menschen. In den Debatten ging es meist um Politik. Sie fand, dass er recht hatte gegen die Westberliner. Aber sie sah auch, dass es ihm nichts brachte. Nur Ärger mit denen und der Mutter, die Frieden wollte. Während der Oberschulzeit wurde ihr die unzulängliche Bildung der Eltern bewusst, sie fühlte sich über die väterlichen Betrachtungen erhaben. Seit wenigen Jahren erst interessierten sie nun wieder die Gespräche mit dem Vater. Der goutierte ihre Entscheidung für den philosophischen Lehrstuhl, ermunterte sie, Lernmöglichkeiten unbedingt zu nutzen.
Und so nahm sie die neue Aufgabe als Aufforderung zum Lernen. Von Frei-mut Wirker erfuhr sie, was die Lehrstuhlgenossen von ihrer Tätigkeit erwarteten. Sie sollte Literatur zu vorgegebenen Themen zusammenstellen. Dann sollte es ihre Aufgabe werden, einen Informationsdienst zu philosophischen Fragen aufzubauen, für den sie Zeitschriften und Zeitungen auszuwerten hatte. Die Beiträge waren zu gruppieren und zu annotieren. Es fragte niemand nach ihren Voraussetzungen und sie begann mit einer Zusammenstellung zum Thema Ethik. Genau wusste sie nicht, was dieser Begriff beinhaltete. Aber sie bildete sich eine Vorstellung nach schon bewährter Methode, schlug in verschiedenen Lexika nach und erschrak, als sie in einer Geschichte von Moralauffassungen eine unübersehbare Anzahl von verschiedenen Vorstellungen antraf, die die Menschheitsgeschichte begleitet haben sollten. Die Rettung vor diesem unüberschaubaren Feld fand sie in einem aus dem Russischen übersetzten Lehrbuch der marxistisch-leninistischen Ethik. Hier war alles klar gegliedert. Unter die vergangenen Jahrhunderte war ein klarer Schlussstrich gezogen. Für die Gegenwart wurde alles auf die politischen Fronten bezogen, mit denen Gisela vertraut war. Es leuchtete ihr ein, dass das Verhalten der Menschen und deren Auffassungen von ihren jeweiligen Interessen abhingen. Das bestätigte einen Maßstab, den sie schon zeitig in ihrem Elternhaus mitbekam und seitdem überall bestätigt fand. Auch die Sätze über die historische Mission der Arbeiterklasse und deren Moral waren ihr nicht fremd, darüber hatte sich auch Johannes geäußert. Es gab ihr ein gutes Gefühl zu sehen, dass alles irgendwie auch zu ihr hinstrebte. Sie war als Kind ihrer Eltern Teil der arbeitenden Klasse, um die es ging. Auch wenn der Vater bei solchen Worten immer abwinkte. „Ich kenne meine Pappenheimer“, sagte er dann.
Das, was sie sich unter Ethik vorstellte, half ihr über den Anfang, gab ihr die innere Zuversicht, hier an einer wichtigen Sache mitzuarbeiten.
Nach einigen Wochen gab sie ein dreißig Seiten langes Titelverzeichnis an ihren Chef. Der wünschte alles zu sehen, bevor es an die Lehrstühle ging. Viele Kärtchen hatte sie beschrieben und sortiert und war nicht unzufrieden mit dem umfangreichen, gegliederten Literaturverzeichnis, das sie aus der Hand gab. Einige Wochen lang hörte sie nichts, ihre Ungeduld begann schon abzuklingen, als ein Genosse Philosoph bei ihr im Lesesaal erschien. Von Johannes wusste sie, er war der erste Ethiker des Hauses. Er kam auf sie zu, schaute nicht