Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold

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von Edith erfuhr. Er lief aufgeregt herum, schien Gisela verwirrter als sonst. Sie hätte gern erfahren, was ihn quälte, sie war ihm in den letzten Monaten etwas näher gekommen.

      Vor einiger Zeit fragte er sie: „Hast du Ärger mit deinen Eltern?“ Überrascht sah sie ihn an, fragte: „Wieso?“ Es war das erste Mal, dass er ihr eine so persönliche Frage stellte. Sie schüttelte den Kopf und er meinte einlenkend „Es hätte doch sein können.“ Da begriff sie, dass er ihren Zustand meinte, der jetzt nicht mehr zu übersehen war. Er wollte auf diese umständliche Weise ein Gespräch mit ihr beginnen. Als sie nicht antwortete, schwieg er eine Weile und schaute auf sie mit eng zusammengekniffenen Augen. Das tat er immer, wenn er verlegen war. Schließlich fragte er sie ganz direkt, ob Johannes und sie die Absicht hätten zu heiraten. „Hat er darüber gesprochen, mein Genosse Johannes Selber?“, fragte er mit gepresster Stimme. Man merkte ihm die Überwindung an, die ihn eine solche Nachfrage kostete. Auf seine teilnehmende Frage antwortete sie schnippisch: „Johannes und ich, wir sind uns einig. Außerdem gehen unsere Angelegenheiten niemanden etwas an.“ Verlegen beschwichtigte er sie, betonte, leicht stotternd, er wolle ihr nur seine Hilfe anbieten, wenn nötig. Seine Reaktion ließ sie beschämt verstummen, gern hätte sie von ihrer brüsken Reaktion etwas zurückgenommen. Aber sie vermochte es nicht. Sie konnte nicht reden über das, was sie im Innersten quälte. Aus dem Himmel erfüllten Glücks, in dem es keine Gespräche über so profane Dinge wie Wohnung oder Heirat gegeben hatte, war sie urplötzlich auf die Erde ihrer Verlassenheit gestürzt. Hier fand sie sich jetzt erst langsam zurecht, registrierte die Veränderungen ihres Körpers, lauschte nach innen, hörte die Klopfzeichen, nahm die Bewegungen des werdenden Lebens wahr.

      Nein, vor solchen Kobus-Fragen, so gut sie gemeint waren, wollte sie gefeit sein. Sie hatte es mit sich auszumachen.

      Als sie ihren Chef nun so aufgeregt und verwirrt herumlaufen sah, hätte sie ihm gerne beigestanden. Aber sie wusste nicht, wobei. Sie erhoffte von der nächsten Dienstbesprechung Aufschluss. Tatsächlich kam er hier auf die Sache zu sprechen. Er verkündete, dass der neue Direktor die Einstellung der Arbeit an der gesamten Bibliographie verfügt habe. Sofort fuhren Edith und Anni aufgebracht dazwischen, fragten, ob man beabsichtige, das ganze Mate-rial, die Arbeit von Jahren, in den Papierkorb zu werfen. Nun bemühte sich der Chef, eine beruhigende Tonart anzuschlagen, bat, ihn nicht zu unterbrechen, damit er die ganze Angelegenheit in Ruhe darlegen könne. Der 2. Teil des 2. Bandes, der die Geschichte der SED, einschließlich ihrer Vorgeschichte, der Vereinigung von KPD und SPD enthielt, stehe kurz vor seinem Erscheinen. Er hätte das Manuskript ins große Haus getragen, zum Absegnen, wie er sich ausdrückte. Von dort war nach einigen Wochen, vorgestern, ein Anruf gekommen. Man rief Herrn Kobus in die Abteilung, in der auch der Mann von Helga Pietsch arbeitete. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass das Manuskript keinesfalls so gedruckt werden könne. Parteifeinde hätten sich dort eingeschlichen. Herr Kobus räumte ein, dass ihn diese Mitteilung bestürzt und er um nähere Erläuterungen nachgesucht habe. Bei den Namen, die man ihm nannte, handelte es sich zum Teil um bekannte Männer, die die Partei zu bestimmten Zeiten repräsentiert hatten. Herr Kobus verstand nicht, warum die nicht in die Parteigeschichte gehörten, aber er wurde, wie er nun zu erkennen gab, eines anderen belehrt. Mangelnde Wachsamkeit warf man ihm dagegen in Fällen vor, in denen Leute, die längst im Westen waren, mit ihren Namen das Manuskript verunzierten. Sie beeinträchtigten die Weihe solcher Dokumentation zur Parteigeschichte, hatte man Herrn Kobus wissen lassen. Man hatte sich nun den ersten, prämiierten Teil der Bibliographie noch einmal vorgenommen und auch hier Namen von Parteischädlingen gefunden, niemand hatte aufgepasst. Die Sache ging nun voll auf Herrn Kobus, weil die Abteilungsgenossen von damals nicht mehr die Abteilungsgenossen von heute waren und man nur noch ihn verantwortlich vorladen konnte. Auch hier machte man die zwei Kategorien schädlicher Namen aus. Bei den einen wiegte der Chef den Kopf hin und her und räumte ein: „Hätte uns nicht passieren dürfen.“ Bei den anderen blieb er hartnäckig bei seiner Meinung, dass sie hinein gehörten in unsere Bibliographie.

      Wenn er von unserer Bibliographie sprach, hegte er wohl die Hoffnung, dass alle, die mitgearbeitet hatten, seine Meinung teilten. Aber das war nicht so, wie die Arbeitsbesprechung erkennen ließ. Irene saß schweigend, erklärte das Ganze Gisela gegenüber zum „fürchterlichen Theater“. Auch hatte sie nur wenig mitgearbeitet bei der Sache. Ihre Katalogarbeit füllte sie aus. Gisela hörte neugierig und erstaunt zu, fühlte sich aber wenig betroffen, richtete die Gedanken bald auf anderes. Edith Gütze diskutierte mit, ließ aber erkennen, dass sie sich in das Wir des Chefs überhaupt nicht eingeschlossen fühlen wollte. Ihr Anteil an der Arbeit war gering und sie gönnte dem Chef offen-sichtlich eine solche Schlappe, weil der sonst immer alles richtig machte. Sie gab ihm zu verstehen, dass er auch jetzt der Chef sein musste, den er ihr gegenüber herauskehrte. So sah sie es, wenn er an ihrer Arbeit etwas auszusetzen hatte. Einmal hörte Gisela zwischen ihnen einen heftigen Wortwechsel, bei dem Edith das letzte Wort behielt. Sie beharrte darauf, dass sie die Buch-ausleihe betreue auch wenn er der Chef sei.

      Eine Partei mit ihm war nur Traude Heim, seine neue Stellvertreterin. Sie wolle ihre Verantwortung mit ihm zusammen übernehmen, sagte sie nachdrücklich. So entschiedene Worte hätte Gisela von der abgehärmten und gehetzten Frau nicht erwartet. Gisela erlebte sie immer nur in Eile, kaum, dass sie sich Zeit nahm, ein Wort an die junge Mitarbeiterin zu richten. Mit Brille und herausstehenden Zähnen hinterließ ihr Äußeres keinen gewinnenden Eindruck. Kam sie morgens in die Bibliothek, schleppte sie schwere Taschen, hatte schon eingekauft. Gisela machte darüber eine Bemerkung zu Anni, die darauf sehr ernst reagierte. „Traude schindet sich zu Tode. Aber der Mann erwartet es so und sie tut alles für ihn“, meinte sie. Fremd war Gisela diese Frau geblieben, überrascht war sie über deren Haltung. Die sprach ruhiger jetzt als sonst, schien weniger verwirrt als Herr Kobus. Auch bei der Diskussion, die durch Helga Pietsch ausgelöst worden war, blieb sie sachlich, während der Chef, am ganzen Körper zitternd, mit schriller, sich überstürzender Stimme sprach, fast schrie. Helga vertrat hier die Meinung von höheren Orts, die in diesem Fall die ihres Mannes war, wie Gisela mitbekam. „Ja, Genosse Kobus“, sagte sie mit Nachdruck in der Stimme, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Ihre Worte schienen eher an die ganze Tischrunde gerichtet, „Es ist so: die Partei hat Recht und du hast Unrecht. Das musst du einsehen.” Darauf wurde Herrn Kobus´ Stimme noch schriller. Er begründete zum wiederholten Male seine Meinung, dass alle hinein gehörten, die die Parteigeschichte mitbestimmt hatten. Seine Augen wurden ganz schmal, seine Lippen versprühten Feuchtes, wenn er so erregt sprach. Niemand erwiderte noch etwas. Auch seine Widersacherin entgegnete nichts auf seine Argumente. Gegen Schluss meinte Anni in ihrer freundlich vermittelnden Art, es würde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde.

      Aber damit hatte sie sich getäuscht. Nicht nur die Arbeit wurde eingestellt. Aus dem schon publizierten Band mussten die Parteifeinde getilgt werden. Ihre Namen und das, was sie geschrieben oder gesagt hatten, sollte zum Verschwinden gebracht werden. Wie nur, fragte Herr Kobus, vielleicht hilft uns der Teufel, meinte er mit Galgenhumor. In den folgenden Tagen schafften alle Mitarbeiter mehrere hundert Exemplare des Buches aus dem Magazin her-auf, stapelten sie auf und neben einem Tisch in Giselas Lesesaal. Herr Kobus hatte in einem Buch probiert, wie die verpönten Namen am wirkungsvollsten zum Verschwinden gebracht werden konnten. Er zeigte ihnen ein Exemplar, in dem er die bezeichneten Titel mit weißen Papierstreifen überklebt hatte. Hielt man die Seite gegen das Licht, war zu lesen, was unter der Klebestelle stand. „Das darf nicht sein“, meinte Frau Pietsch kategorisch und Herr Ko-bus schlug ein anderes Verfahren vor. Er schwärzte die bezeichneten Stellen mit Tinte. Das sah nicht gut aus, verunzierte das ganze bibliographische Werk. Aber diese Art erwies sich als wirksam. Es war unmöglich zu lesen, was unter der Schwärze stand.

      Gemeinschaftlich gingen sie ans Werk. Edith hielt die Liste der beanstandeten Namen in der Hand und las sie vor. Irene und Gisela nahmen je ein Buch in die Hand, bezeichneten die gelesenen Namen mit einem Bleistift und legten Papierstreifen in die Seiten. Dann gingen Anni und Traude ans Werk, schwärzten die Buchstaben mit Hilfe einer Schablone. Das war schwierig, die Schwärze musste präzise auf die entsprechende Stelle begrenzt werden. Es war zu verhindern, dass sie noch andere einbezog, die keine Parteifeinde waren. Man arbeitete Hand in Hand, jeden Tag mehrere Stunden, brauchte mehrere Wochen, um mit dem

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