Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold
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Johannes wandte sich an die Mutter, lobte den Kuchen, erzählte von seiner Mutter, den drei Schwestern, die ihn alle, ihren einzigen Bruder, sehr liebten. Bei solcherlei Unterhaltung verging der Nachmittag schnell. Zwar bemerkte Gisela eine leicht kontroverse Stimmung bei den Diskussionen der Männer, aber das fand sie nicht ungewöhnlich. Immer gab es politische Diskussionen in ihrer Familie. Meistens zwischen dem Vater und den Westberlinern aus Neukölln und Kreuzberg. Währungsreform, Schiebermarkt, Grenzgängertum, Polizeikontrollen, alles kam bis ins Wohnzimmer, wenn sie bei den Familienfeiern stritten. Jetzt hatten sich die Fronten verkehrt. Während sonst die Westberliner, Mitglieder oder Sympathisanten der SPD, ihre Fragen an den Vater richteten und der nach Antworten und Erklärungen suchte, war jetzt er derjenige, der fragte. Er schien von Johannes Antworten zu erwarten und schwieg, weil sie offensichtlich unbefriedigend für ihn ausfielen.
Als sie ihren Johannes noch bis zum eisernen Tor brachte und den schmalen Laubenweg zurücklief, war sie erleichtert, dass alles so gut und freundlich verlaufen war. Nun erst fiel ihr auf, dass die Mutter, die immer an Familiärem interessiert war, weder nach Johannes Kindern, noch nach seinem Familienstand gefragt hatte. Es war einfach übergangen worden. Als sie zurückkam, hantierte die Mutter in der Wohnküche, stellte das Abendbrot auf den Küchentisch, während der Vater hinter der Zeitung saß. Sie schaute der Tochter gleichmütig und freundlich ins Gesicht und sagte: „Setz dich man und iss“, als müsste sie sie beruhigen. Der Vater legte die Zeitung aus der Hand, setzte sich zum Essen zurecht und sagte knapp: „Der Johannes ist ein ganz Schlauer.“ Gisela wartete wie auf ein Urteil, aber es fiel kein weiteres Wort. Die Eltern blieben zurückhaltend.
Bald sollten sie in eine Wohnung umziehen. Sie gehörte zu einem Quartier, das zum 10. Jahrestag der DDR fertiggestellt worden war, auf einem Gelände am Plänterwald, wo zuvor Lauben gestanden hatten. Der Vater hatte während des Umbaus der Laube, als ihnen das Ganze über den Kopf zu wachsen drohte, einen Wohnungsantrag gestellt. Acht Jahre waren seitdem vergangen. Und nun zögerten die Eltern den Umzug hinaus, es fiel ihnen schwer, sich von ihrem selbstgebauten Domizil zu trennen, in dem sie drei Jahrzehnte gelebt hatten. Man freute sich zwar auf Bad und warmes Wasser, das mit einem Durchlauferhitzer erzeugt wurde. Frische Luft und Garten würden ihnen fehlen, meinte die Mutter. Niemals würde in Geld aufgewogen werden können, was sie an Mitteln und Kraft in den Bau der Laube gesteckt hatten, kommentierte der Vater die Verhandlungen mit dem Vereinsvorstand um den Verkauf. Den Schätzpreis von dreitausend Mark nannte er einen Gefälligkeitspreis für den Sohn des Vereinsvorsitzenden, der auf die Laube reflektierte. Er hatte es geahnt, man würde ihn über die Löffel barbieren, sagte er bitter. Es schien ihn in seiner Meinung über die korrupte Vereinsclique zu bestätigen.
Endlich war der Umzugstermin festgesetzt. Gisela und Johannes nahmen die Wohnung schon einige Wochen vor den Eltern in Besitz. Von ihrem gerade verdienten Geld kaufte sie Möbel für das kleine Zimmer. Johannes begleitete sie bei diesen Erwerbungen, achtete darauf, dass die Möbel auch ihm gefielen. Er riet zu einer breiten Liege, die die ganze Stirnseite des Zimmers einnahm und den Zugang zum Fenster verstellte. Zwar hatte Gisela eher an etwas Kombiniertes zum Sitzen und Schlafen gedacht, aber sie wollte schließlich immer nur das, was er wollte. Er bewohnte das Internatszimmer nur selten, schlief mit ihr jetzt hier.
Sie gewöhnte sich schnell an das nächtliche Beieinandersein. Still lag sie in seinen Armen, überließ sich ihm ohne eigenen Willen. Gemeinsam gingen sie früh zur Arbeit, tagsüber saß er meist in ihrem Lesesaal, las und schrieb und kam zu ihr, wenn sie sich allein wähnten, um sie zu küssen und sich zu er-kundigen, was dieser oder jener von ihr gewollt hatte. Sie fühlte sich immer etwas müde, ein leichtes Schwirren im Kopf, eine leise Benommenheit veränderten alles Wirkliche um sie herum. Sie nahm ihre Umwelt wie durch einen Schleier wahr. Aus dieser Empfindung schreckten sie Unmutsäußerungen der Eltern, bei denen sie erst gegen Mittag erschienen, um beim Umzug zu helfen. Sie hatten auf Johannes gerechnet, der beim Aufladen der Möbel helfen wollte. Jetzt hatten sie es zum großen Teil schon allein erledigt. Während Gisela die Sache peinlich war, schien Johannes nichts zu bemerken.
Auch die Unmutsäußerungen von Giselas Kolleginnen interessierten ihn nicht. Sie schienen Anstoß daran zu nehmen, dass Johannes den ganzen Tag bei ihr im Lesesaal saß. Gisela hörte sie tuscheln, schnappte spitze Worte auch von der freundlichen Anni auf, die sie aufscheuchten. Die war jetzt viel seltener gesprächsbereit. Gisela bemerkte, dass sie sich von den Kolleginnen isolierte. Als sie mit Johannes darüber sprach, bestärkte der sie darin, dass es die anderen nichts anginge, was sie miteinander taten. Nur ihre Arbeit, die solle sie auf keinen Fall schleifen lassen, riet er ihr nachdrücklich. Ein leises Unbehagen blieb bei ihr. Aber sie wollte mit Johannes übereinstimmen, ihm nah sein und war bereit, dafür einen Preis zu zahlen.
In der ersten Woche des neuen Jahres 1960 verbrachten sie einen kleinen Urlaub im Erzgebirge. Er wollte ihr ein weiteres Stück seiner sächsischen Heimat zeigen. Nach kurzer Station in Freital, bei seinen Eltern, fuhren sie nach Altenberg. Sie sah das erste Mal diese hügelige, weiße Landschaft und empfand die Ruhe, die sie ausstrahlte. Johannes war ihr bei den Skitouren stets um Meter voraus. Er fuhr mit eigenen Brettern, die er seit früher Jugend unter den Füßen hatte und gab Anweisungen, wie Schneepflüge und Bögen zu fahren waren. Die schnellen Abwärtsfahrten machten ihr Angst, sie lag oft im Schnee. Johannes, der zuerst das Tal erreichte, schaute ihr entgegen, kommentierte die Fehler. Er hatte als Neulehrer auch seinen Schülern die Grundlagen dieses Sports erklärt, mit Erfolg, wie er betonte. Sie sei ein ziemlich schwieriger Fall, aber es würde schon werden. Gisela litt unter ihrer Schwerfälligkeit, die sie bisher an sich nicht bemerkt hatte, spürte, wie die sich unter seinen kritischen Blicken verhedderte. Als sie ihn bat, nicht auf alles zu achten, unterließ er seine Unterweisungen. Er fuhr jetzt weit voraus, ohne sich umzuschauen.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass sie bereits in andere Umstände gekommen war. Es wurde ihr erst einige Wochen später klar, als sie schon wieder im Lesesaal arbeitete. Johannes drang auf eine schnelle, jeden Zweifel ausschließende Untersuchung. Als sich bestätigte, was sie schon wusste, sagte er kurz: „Da hab ich nicht aufgepasst!” Diese Worte lösten Er-staunen bei ihr aus, hatten sie doch mehrmals über ein Kind gesprochen. Ein solcher Wunsch war ihr ganz plötzlich gekommen. Sie wollte, dass ihre Umarmung, ihre Lust nicht ohne Folgen blieb. Sie erhoffte sich einen Anker in ihm, wenn sie etwas von ihm in sich trug. Seine Worte jetzt verrieten ihr, dass ihr Wünschen doch irgendwie verschieden war.
Er freue sich auf die Tochter, meinte er, und nach kurzem Besinnen fügte er hinzu oder den Sohn.
Die Mutter bekam ein stilles Lächeln um den Mund, als sie von Giselas Schwangerschaft