Die Glückseligen. Gerhard Schumacher
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Читать онлайн книгу Die Glückseligen - Gerhard Schumacher страница 11
Außerdem plagt mich seit Wochen ein Traum, der fast jede Nacht ganz arg mich drangsaliert. Darin sitze ich in einer Klasse von vielleicht fünfzig Mitschülern, ja ich habe sie nicht gezählt, aber diese Zahl wird´s schon gewesen sein, mindestens, und ein mir recht unsympathischer Professor verteilt die Blätter für eine wichtige, wahrscheinlich die wichtigste Klausur überhaupt. Es handelt sich um Blätter, die jeweils mit einem der fünf Kontinente bedruckt sind, allerdings nur in den Umrissen, ohne Ländergrenzen, Städte- oder Flüssenamen. In den dazu gehörenden Aufgaben muss man eine bestimmte Strecke zwischen zwei festgelegten Punkten eintragen und zusätzlich die Anzahl der Kilometer auf 10 Prozent genau (schon wieder die geheimnisvolle Prozentzahl) angeben. Jeder hat fünf Aufgaben zu bewältigen. Die Erste kann ich noch bravourös meistern: von Berlin-Steglitz nach Ratzeburg über die Ausfahrt Zarrenthin. Kinderspiel, einzeichnen ungefähr, Entfernung 260 km, übern Daumen.
Aber dann kommt´s wirklich dicke. Von Paris über Neapel nach Berlin-Papestraße ist die für mich unlösbare Aufgabe. Und Timbuktu - Bad Reichenhall ohne Umweg über Grainau. Liegen die Orte überhaupt auf einem Kontinent? Oder Tananarive – Saigon und zurück über Singapur nach Lübeck-Moisling. Vergiss es.
Zum Glück wache ich an dieser Stelle immer auf und rette mich so aus größerem Desaster. Allerdings weiß ich zu Beginn des Traums noch nicht, dass Lübeck-Moisling der auslösende Wachmacher ist und durchträume bis dahin unangenehme Zeiten.
Traum hin oder her, der Urschwager rief nicht an, es half nichts, ich musste die Initiative ergreifen und wählte also die landmännische Fernsprechnummer. Schon nach wenigen Klingeltönen hatte ich ihn am Apparat.
»Hier Landmann, wer da?«, schallte es mir im vertrauten Singsang aus dem Hörer entgegen. »Hallo?«
Da ich mir trotz aller zwischenzeitlichen Grübeleien keinen Grund für meinen Anruf überlegt hatte, rief ich das Erstbeste in die Muschel, das mir einfiel:
»Allo allo, ici Radio-Television de Paris.«
»Oui oui«, ließ die Antwort nicht auf sich warten.
»Monsieur Landmann?«, spann ich den einmal aufgenommenen Faden unverdrossen weiter, wobei ich seinen Namen sowohl bei Land als auch bei Mann nach Franzosenart mit Nasalen versetzte. Ich war gespannt, wie es weiter ging, zumal meine Französischkenntnisse in Wort und Schrift und Telefon damit so gut wie ausgeschöpft waren. Meines Wissens hatte der Pensionärsschwager auch keine weiterreichenden Erfahrungen mit der Sprache Voltaires. Zur Not konnte ich immer noch auf das Spanische ausweichen. Wer konnte schon ahnen, wie schwierig in Deutschland die Kommunikation ist?
»Oui, ici Madame, äh, pardon, Monsieur Landmann, Landmann, oui oui, voulez-vous parle avec moi?«
Donnerwetter, das hätte ich ihm nicht zugetraut. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass seine Antwort inhaltlicher Blödsinn war, denn weswegen sollte ihn das Pariser Radio anrufen, wenn es nicht mit ihm reden wollte, bewies der Schwager doch nicht geringe Schlagfertigkeit.
»Je ne parle pas francais«, gab ich kleinlaut zu.
»English?«, fragte Landmann weltmännisch zurück, »Espanol, Italiana, Kisuaheli, du bloody bastard you, can you hear me, tell me, can you hear me, can you understand me? Or what?«
»Espanol es mas bien, Flamenco, Toro, Gran Canaria, Senorita Landmann es en la casa?« Ich weiß nicht, was mich ritt, diesen Schwachsinn weiter zu treiben, der Schwurbel der wienerschen Biere war in vollem Gange und ich fühlte mich wohl dabei. Landmann schien ähnlich zu fühlen, ich spürte es, sonst hätte er bei seinem babylonischen Sprachangebot nicht die einzige Sprache, die wir beide beherrschten, nämlich deutsch, ausgespart.
»Si Senor«, blökte Schwager Paul generös, ganz sicher hatte er Gefallen an der eigentümlichen Konversation gefunden, »Senorita, äh Senor Landmann es en la casa, pronto, prego, pero, äh, no tengo dinero, pesetas, caprice?«
Nun wurde der beamtete Landmann polyglott.
»Keep quiet, I´m still on your side, side si, a tu lado, que sera amigo, que sera?«
»A donde esta?«, fragte ich schamlos.
»Dorodont? Was? Que? Donde, de nada, amigo, de nada. Por favor, please, Yo soi un canario«, flötete Landmann ohne Pause vor sich hin, darin durchaus mit seinem, Nachfolger Wenzel vergleichbar, der es ebenfalls bestens verstand, ohne Punkt und Komma auf seine Umwelt einzuschwallen.
»I´m a tiger, terrible tiger, entfant terrible, don´t misunderstand me, don´t let me be misunderstood, Mr Orbison, äh, Mr Jones«, er stockte, offensichtlich meinte er Eric Burdon und kam nicht drauf. Landmann verlegte sich aufs Stöhnen:
»I got the blues, Yo soi un grande matador, je suis le nouveau Chevalier, Maurice, oui, comprende amigo?«
Es war schlicht herrlich. Verträumt hörte ich dem landmännischen Gesäusel zu. Hatte der Doyen des Schwagerwesens etwa auch einen späten Frühschoppen hinter sich? So aufgeräumt hatte ich ihn selten erlebt.
»Que hay en la tortilla?«, die Versuchung war zu groß, den Schwachsinn auf die Spitze zu treiben.
»Patatas? Gambas? Cerveza?«, mir fiel nichts mehr ein, aber der Altschwager half mir aus der Patsche:
»Ahhh, cerveza, grande cerveza, no pequeno por favor, bueno, ahhh«, jetzt kam Landmann ins Schwärmen, »un grande cerveza, grandioso, algo mas, amigo, algo mas?«
»Si senor Landmann, tambien un pequeno Osborn, po favor.«
»Ahhh, Osborn es un brandy grandioso, si, grandioso«, das Wort schien ihm zu gefallen. Landmann schnaufte verhalten in den Hörer und schwieg dann. Auch ich sah keine Veranlassung, weiteren Unsinn zu produzieren, zumal mir die verbale Munition abhandengekommen war. Der Schwager hatte mich in Grund und Boden gequatscht. Also schwieg ich ebenfalls. In die Stille hinein schnalzte der Urschwager zweimal mit der Zunge, so, als wollte er mir mitteilen, er sei noch da. Es war ein reines Nervenspiel, wer zuerst die Geduld verlieren würde. Warum fragte er nicht, wer am Apparat sei, das war doch das Mindeste, das ich erwarten konnte, von einer Frage nach dem Grund des Anrufs ganz zu schweigen. Nach weiteren quälenden Minuten schnalzender Ruhe hielt ich es nicht mehr aus.
»Que tal?«, hauchte ich in die Sprechmuschel.
»Hasta la vista amigo«, kam es aus dem Hörer zurück, »hay un fin, final, comprende, tengo termino importante, muy impotante, ahora, al presente, comprende«, sprudelte es immer lustig weiter, »por favor nueva conferencia a la manana, ok? 15 hora, ok? Adios amigo, a la manana, ahhh.« Und der Gründerschwager hatte aufgelegt, ehe ich noch Weiteres von mir geben konnte.
Auch ich legte den Hörer nieder und schaute nachdenklich aus dem Fenster zwei Eichhörnchen zu, die wuselig um einen Baumstamm tollten. War ich nun Täter oder Opfer? Meinen, aus der Unüberlegtheit heraus gestarteten, gleichwohl, zugegeben, hinterhältigen französischen Überraschungsangriff hatte der Exschwager souverän mit einem multilinguistischen Feuerwerk gekontert, das ich ihm aus dem Stegreif nicht zugetraut hatte und das in seiner polyglotten Komplexität die Vermutung aufkommen ließ, Landmann sei zum Zeitpunkt des Gesprächs gleich mir gedopt gewesen. Vom Alkohol beflügelt oder vom eigenen Guitarrenspiel berauscht, oder aber durch den Konsum bewusstseinserweiternder Substanzen kurzzeitig einem geistigen Höhenflug erlegen. Hart soll er sein, der Aufschlag in der Wirklichkeit.