Die Glückseligen. Gerhard Schumacher
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Glückseligen - Gerhard Schumacher страница 4
Noch etwa dreißig Meter von ihm entfernt, dröhnte seine kräftige Stimme schon gewaltig auf mich ein, nicht wenige Mitreisende duckten die Köpfe. Wenn man es genau nimmt, war Wenzel Wiener nur unwesentlich leiser als der quäkende Lautsprecher der Bahnhofsanlage, aber deutlich besser zu verstehen:
„Mensch Morbi, dass du noch gekommen bist, mit der Bahn, dem Dings, dem Zug, klasse, ehrlich, ein Stück weit, kein Quatsch, huhu, hier, Morbi, hier, du musst nach links gucken, alter Sappel, hier bin ich…“, und so weiter und sofort ohne Punkt und Komma, vom Semikolon ganz zu schweigen und schwallte schon aus der Entfernung gnadenlos auf mich nieder und ein und verwehrte mir aufgrund des Abstands zwischen uns jede Möglichkeit körperlicher oder verbaler Gegenwehr.
Aber den Leuten hat es offensichtlich gefallen. Bis auf ein paar der Deutschen, nein, der Berliner Sprache wahrscheinlich nicht mächtigen Migranten hat die Mehrzahl der dem Ausgang Zustrebenden gelacht und nur wenige haben mit dem Zeigefinger an die Stirn getippt. Bahnpolizei war weder anwesend, noch anscheinend alarmiert. Wenzel hatte ein Auditorium und für seine Verhältnisse war es ein Maximum, das er nicht alle Tage zur Verfügung hatte und das es auszunutzen galt.
Als ich etwa zehn Meter vor ihm war, brüllte er mit einer Stimmgewaltigkeit, die bis zum nächsten Stellwerk reichte:
»Morbi, wie war´s bei den Leinepissern? Hast du wenigstens gut gemauselt, ha ha, in Hannover an der Leine, ham die Mädchen dicke Beine und der Arsch ist kugelrund, was Morbi, stimmt doch, oder, sag mal, alter Torfstecher?«
Ich merkte leichte Röte in mir aufsteigen, als verschiedene Leute mich anguckten, zumal just zu diesem Zeitpunkt der verkommene Kellner des Mitropa-Speise-(mir-ist-der-Appetit-vergangen)wagens aus einem Abteilfenster lugte, hämisch sabbrig grinsend erst Wenzel, dann mir den nackten Zeigefinger entgegenstreckte und sich dabei offensichtlich nicht nur köstlich zu amüsieren schien, sondern dies auch noch einem im hintergrundigen Halbdunkel lauernden Unter- oder Hilfskellner mitteilte. Diesem Arsch, der vierzig lange Jahre hochnäsig Club-Cola durch die Gegend geschmissen hatte, wenn er denn nicht auf der Parteischule den Fahnenappell verschlief, diesem HO-Gauner, der er immer noch war, der nie irgendwo, schon gar nicht in der Zivilisation, ankommen würde, dem hätte ich seine Schadenfreude am allerwenigsten gegönnt. Aber was soll´s, ich konnte es mir ja nicht aussuchen. So ist das postsozialistische Wendeleben, zumindest reichsbundesbahnmäßig gesehen.
Ich war inzwischen fast bei Wenzel angelangt. Er hatte das bärtige Köpfchen leicht angewinkelt, zwinkerte vergnügt mit den blitzblanken Äugelein und streckte mir beide Arme empfangsbereit entgegen, so, als würde er mich gleich inniglich in selbige schließen. Im letzten Augenblick überlegte er es sich anders, zog die Ärmchen wieder in ihre Grundposition und ich war froh, nicht vor all den Leuten an seine Brust gedrückt und eventuell auch noch abgeknutscht zu werden.
»Du kommst ja pünktlich«, schrie er mich an, »das ist schön, da braucht man nicht solange zu warten«, schlussfolgerte er messerscharf. Dass Wenzel schrie, war normal, es war ihm von der Natur nicht gegeben, in angemessener Lautstärke zu reden.
Dann lud er mich zum Frühstück ein und auch mein Hinweis, es sei ja nun doch schon früher Nachmittag, brachte ihn nicht davon ab, denn er hatte höchst Wichtiges mit mir zu besprechen.
»Hast du schon gefrühstückt Morbi, mein Freund, komm mit frühstücken, ich lad´ dich ein, ein Stück weit, ins Omero, ein gutes Frühstück gibt´s da, geh´ schon mit, Schwager, ehrlich…«
Wer konnte da schon Nein sagen? Wir schnürten die Treppen hinunter zur Haupthalle, vorbei an zugedröhntem Drogenvolk, Bahnpolizisten und sonstigen Pennern und kamen durch schwingende Türen ins Freie. Wenzels Volvo, in der Grundfarbe ursprünglich einmal weiß, stand mitten auf dem Trottoir des kleinen Bahnhofsvorplatzes direkt an einer Notrufsäule. Ob er keinen Schiss hätte, abgeschleppt zu werden, wo es doch hier von Polizisten nur so wimmelte, fragte ich ihn erstaunt. Wenzel verneinte und schloss den Wagen umständlich auf. Er habe da einen einfachen aber wirksamen Trick, erklärte er und reichte mir aus der Windschutzscheibe einen Notizbuchzettel, auf dem mit Bleistift in Druckbuchstaben geschrieben stand: EILIGER NOTDIENST!!! und darunter war mit Filzstift ein rotes Kreuz nicht ganz symmetrisch gemalt. Das Ganze sah aus wie die ungelenke Krakelei eines Zehnjährigen.
»Und den Wisch kaufen dir die Bullen ab?«, fragte ich ungläubig.
»Immer«, antwortete Wenzel vergnügt. Und richtig, ich konnte kein Strafmandat entdecken. Was ja auch wieder einiges über die grünen Jungs und Mädels aussagt.
Wir fuhren die Joachimstaler Straße und Bundesallee Richtung Steglitz und Wenzel bemühte sich, allzu dunkle Ampelphasen zu vermeiden indem er zügige Hochgeschwindigkeit vorgab. Unter dem Rückspiegel baumelte ein Duftbäumchen in Tannenform vor sich hin, sonderte aber gnädigerweise keinen Nadelwaldgestank mehr ab. Es hatte schon beim Kauf des Wagens dort gehangen und war inzwischen zu alt für diese Art von Spielereien. Nachdem wir endlich in die Leonorenstraße einbogen, parkte er den Wagen vorschriftsmäßig am Straßenrand einer Seitenstraße und wir schlenderten durch wärmende Sonnenstrahlen zur Restauration Omero.
Es ist dies nun ein nicht eben gut beleumdetes Etablissement, das sich seit immerhin fast 15 Jahren einer mir unverständlichen Beliebtheit bei bestimmten Bevölkerungsschichten erfreut. Wir Alten gehen nur ungern in diese Suff- und Fresshöhle, da hier unbestritten die noch Älteren das Zepter schwingen, das sie erst bei ihrem biologisch bedingten Abgang an den sorgsam herangezüchteten Nachwuchs unter sich weitergeben, der es dann genauso hält, das Zepter. Ein verschworener Zirkel von Greisen, in sich geschlossen, abgeschirmt durch die eigene Senilität wie weiland das Zentralkomitee im Moskowiter Kreml. Im Omero tagte das richtungskompetente Oberorgan der gerontologischen Bewegung in permanenter Sitzung.
Die Räumlichkeit selbst, deutsche und internationale Spezialitäten, besteht aus einem langen schlauchartigen Saal, der sich meterweit im Hintergrund durchs Halbdunkel kämpft und wohl auch darin verliert. Kein Bild stört die schlichte Schmucklosigkeit der Wände, die beidseitig mit Tischchen für jeweils vier Greise vollgestellt sind. Die Tischreihen trennt eine Art Laufsteg für das Bedienungspersonal, das, wie sich mir bald erschloss, aus einer einzigen, mehr als zwielichtigen, Person besteht, die offensichtlich Tag und Nacht hier schlaflos ihr Wesen treibt und mittels des schmalen Knüppeldamms allerlei Gemenge von der Feuerstelle an die Tische speditiert, Bier und Schnaps sowieso.
Im hinteren, fast schon dunklen Teil der schlauchigen Schankstube gelangt man durch ein Gewirr verschiedener Türen und tückisch auf ihre Chancen lauernder Stufen in den per Schild deklarierten „Raum für Festlichkeiten aller Art“, in dem die Untoten ihre Jubiläen, Gedenkfeiern, letzte Tänze und, wer weiß, schwarzen Messen oder andere kultischen Orgien bei tauchsiedergewärmten Gerstensaft und sonstigen Gaumenkitzlern abfeiern.
Kurz vor dem Türgewirr, gerade noch im rauchgeschwängerten Dunst zu erahnen, befindet sich der Tresen mit Zapfanlage, Waschgelegenheit und Schränken aller Größen und Couleur, die Gläser unterschiedlicher Abmaße, Zubehör und sonstige Accessoires des Suffs bergen und verwahren.
Ein weiteres Schild im Eingangsbereich weist großspurig auf einen sommerlich zu nutzenden Biergarten hin, den jedoch keiner, den ich kenne, je gesehen, geschweige denn betreten hat. Nicht wenige behaupten sogar, der Biergarten existiere ausschließlich in der blühenden Phantasie des Schildermalers. Wer weiß.
In diese Lokalität verbrachte mich Wenzel Wiener, der Substitut aller Schwäger.
Kaum, dass wir den Gastraum betraten, schleuderte Wenzel ein behände gedonnertes »zwei Halbe Fred«, in Richtung