Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß

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Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß

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Paradies.

      Aber bald hat sich mein Befinden geändert. Ich bin unzufrieden, ohne zu wissen warum. Ich bin todmüde und kann nicht schlafen. Das Herzklopfen, das mich geängstigt hatte, fehlt mir. Lustlos absolviere ich meinen Unterricht. Ich esse kaum etwas. Hatte immerzu Durst.

      Im Schulhof ertappe ich mich oft, dass ich vor der Kastanie stehe. Ich betrachte sie genau, und es kommt mir vor, als fehle ihr etwas.

      "Du bist verrückt, Hausmann", sage ich mir. "Alter, was willst du eigentlich?"

      Es geschieht vieles an der Kastanie. Bisher ist es mir verborgen geblieben. Die Einschusslöcher an ihrem Stamm dienen den Schülern als Briefkästen. Die unteren Löcher benutzen die Kleinen. Die oberen Löcher die Älteren. Mädchen und Jungen tauschen darin Nachrichten aus. Zettelchen und kleine Geschenke werden dort abgelegt und angenommen. Es gibt ein großes Astloch im Stamm. Es ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Ein Rindenstück, das sich abnehmen lässt, verdeckt es. Einer Gruppe von Jungen und Mädchen dient es als Vorratskammer. Wenn sie sich unbeobachtet fühlen, versorgen sie sich aus dem Astloch mit Alkohol und Tabletten, die sie in Stimmung bringen sollen. Das Astloch habe ich mit Zement verschlossen.

      Nach dem Unterricht gehe ich wie jeden Tag in meinen Garten. Die meiste Zeit sitze ich im Korbsessel, über mir im Apfelbaum sitzt der Pirol. Ich höre ihn nur noch krächzen. Die Blätter verfärben sich rot. Mir ist heiß. Mir ist kalt.

      Nachts gehe ich auf den Schulhof. Richte den Strahl der Taschenlampe auf die Baumkrone.

      Ich lasse Hans Schorn nicht aus den Augen. Nicht im Unterricht. Nicht in den Pausen. Ich bin neugierig, was er wohl antworten würde, wenn ich ihn nach seiner Lieblingsfarbe fragte. Rot. Ist Rot deine Lieblingsfarbe? Und was er wohl gern isst? Ob die Hitze ihm auch zu schaffen macht? Liebst du Afrika? Oder möchtest du auf dem ewigen Eis leben? Ob er die Verzweiflung schon kennt? Die Sehnsucht? Das Gefühl des Alleinseins?

      Ich habe Hans Schorn noch nie lachen gehört. Ich wünsche mir, er würde einmal lachen.

      Bis zu dem Tag, an dem er zum ersten Mal auf dem Baum saß, habe ich ihn kaum wahrgenommen. Er ist ein mittelmäßiger Schüler. Er gab bisher keinerlei Anlass zur Klage oder Freude. Er war einer von vielen. Ihr Gesicht verliert sich in einer Gruppe.

      Hans Schorn sitzt im Klassenzimmer in der drittletzten Reihe. Eigentlich mittendrin. Er sitzt an einem Tisch mit Gundula Pfeiffer. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen. Ihre Hand ist fast immer oben. Sie schnippt mit den Fingern. Ihr Gesicht glüht. Die Worte sprudeln ihr aus dem Mund. Sie hat den Jungen bisher völlig verdeckt.

      Hans Schorn sitzt mit aufgestützten Ellenbogen. Seine Handflächen umschließen Kinn und Wangen. Mir fällt auf, dass das dunkle Haar kurzgeschnitten ist. Wie ein gemähter Rasen, auf dem ein paar Grasbüschel dem Messer widerstanden haben und sich zu Fragezeichen aufrichten. Seine Augen sind grün. Sie blicken durch mich hindurch. Manchmal drehe ich mich um, seinem Blick zu folgen. Aber ich sehe nur die Wand.

      Es gibt da ein Mädchen. Christa Mällmann. In den Hofpausen hält Hans Schorn sich in ihrer Nähe auf. Er sieht sie nie direkt an. Sie lässt ihn rot und blass werden. Seine Lippen öffnen sich, wenn sie lacht. Sie werden schmal, wenn sie sich ärgert. Ein Junge aus einer elften Klasse interessiert sich für sie. Und er ist ihr nicht gleichgültig. Betritt Horst Rappke den Schulhof, werden Hans Schorns Augen dunkel. Er steht steif. Reibt sich mit der Faust über die Stirn.

      Ist Hans Schorn wegen Christa Mällmann auf die alte Kastanie gestiegen? Will er ihre Aufmerksamkeit erregen?

      Das kann nicht sein, sage ich mir. Das allein ist es nicht. Was will ich eigentlich da oben? Treffe ich da etwa in meinen späten Jahren noch auf ein Geheimnis? Wohl gar auf ein Wunder? Da muss ich nun doch Lächeln. Ich bin Lehrer. Spezialist für Erkennen und Erklären.

      Es passiert, da folge ich Hans Schorn nach dem Unterricht. Ich fühle mich nicht gut dabei. Ich tue etwas Unrechtes. Aber ich kann nicht anders.

      Ich beobachte. Der Junge holt seine Mutter von der Arbeit ab. Er trägt die vollen Einkaufstaschen nach Hause. - Der Junge fährt auf einem klapprigen Fahrrad davon. - Der Junge spielt mit anderen Jungen Fußball. - Der Junge schleift sein Taschenmesser an einem Stein. - Der Junge spuckt aus einem Fenster auf die Straße. Der Junge sitzt neben seinem Vater in einem Auto.

      "Der Junge! Der Junge! Der Junge!"

      Nichts Ungewöhnliches kann ich beobachten. Und doch tritt der Junge aus der Menschengruppe heraus. Manchmal ist er mir so nahe - da brauchte ich nur die Hand auszustrecken. Ich könnte ihn berühren. "Du", könnte ich sagen. Er würde mich ansehen. Den alten Hausmann. Seinen Lehrer. Ob er erschrecken würde?

      Es geht etwas in mir vor, das ich nicht beherrsche. Ich muss aufpassen. Ich bin aus dem Gleichgewicht.

      Wer ruft mich zur Ordnung? Wer spricht mir für mein Verhalten einen Verweis aus?

      Ich fliehe in meinen Garten. Dort sperre ich mich ein. Mein Paradies: ein Gefängnis. Kein Blick über den Zaun. Im Apfelbaum der Pirol. Sein Gekrächz.

      Diese Hitze. Keine Fenster. Keine Tür.

      Es soll regnen. Endlich regnen.

      "Du kommst jetzt sofort von da oben herunter!"

      Ich stehe mit Lehrern und Schülern auf dem Schulhof. Bei der alten Kastanie. Wir schauen nach oben. In das bunte Laub des Baumes.

      Hans Schorn sitzt wieder auf dem Baum.

      Ich könnte es hinausschreien. Als die Nachricht des Tages.

      Die Stimme der jungen Direktorin klingt sehr erregt. "Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst...! Aber dann...!"

      Frau Wendisch sieht mich an. Hilflos und zornig. Ihr Blick sagt: Nun tun Sie etwas! Ihr Mund ist viel zu schmal. Er passt nicht in ihr Mädchengesicht. Es ist der Mund einer alten Frau, die Bitteres erlebt hat.

      Ich zucke mit den Schultern. Nicke. Lächle. Aber sie will sich nicht beruhigen. Sie will Ordnung. Jetzt. Sofort.

      "Mädchen", sage ich leise. "Mensch, Mädchen."

      "Wenn du jetzt nicht sofort....!"

      Die junge Direktorin verstummt mitten im Satz, dreht abrupt dem Baum den Rücken zu. Sie geht los. Mit kleinen schnellen Schritten. An mir vorbei. Sie sagt: "Kommen Sie in mein Zimmer. Sofort."

      Wieder stehe ich im Direktorenzimmer vor dem Schreibtisch. Wieder sitzt die junge Direktorin dahinter. Zwischen ihren Augen ist eine steile Falte entstanden. Kaum zu sehen. Aber sie ist da. Meine Finger tasten die Stelle zwischen meinen Augen ab.

      So neu erscheint mir auch das Zimmer nicht mehr. Die ganze Schule nicht. Scheiben, Treppengeländer und Wände zeigen deutliche Fingerabdrücke. Der Fußboden ist voller Fußspuren, die nicht mehr wegzuwischen sind. Die ersten Strichmännlein und Strichweiblein sind ins Türholz geritzt. Auf den Schülertoiletten sind männliche und weibliche Geschlechtsteile abgebildet und hässliche Sprüche zu lesen. Und auf dem Schreibtisch der Direktorin gibt es Flecke von verschüttetem Kaffee. Die Gardinenstange ist abgerissen. Holzreste vom Bleistiftspitzen liegen zwischen Heften und Ordnern.

      Frau Wendisch spricht schnell. Sie stößt den Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte. Um im Rhythmus zu bleiben.

      "Herr Hausmann, ich bin unzufrieden. Ja, empört. Ich dachte, die Angelegenheit ist erledigt. Solche Dummheiten

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