Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß

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Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß

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Es geht uns gut, zum Glück, Robert konnte in seinem Betrieb bleiben, er hat sogar eine Leitungsposition übernommen. Das Geld reicht für Miete, Urlaub unter der Sonne, Ausgehen und was man sonst noch so braucht. Nein, Kinder haben wir keine, noch nicht, im Moment passen sie nicht in unser Leben. Ich weiß nicht. Ich weiß so vieles, was ich einmal sicher wusste, nicht mehr.

      Es ist etwas passiert, Sonja, ich erzähle es dir sofort, ich will nur, dass du alles weißt, denn wem sonst soll ich es sagen, ich lebe in einer Welt voller Bekannter, du aber bist meine Freundin. Bist du es noch? Ich wünsche es mir so sehr.

      Also die alte Schule wurde weggerissen und auf ihren Platz eine neue gebaut, fast über Nacht, wie im Märchen. Nur ein mächtiger alter Baum ist übrig geblieben, er steht mitten auf dem Schulhof, eine Kastanie, ich hatte ihn nie beachtet. Weißt du, es lief eben, man machte mich zur Direktorin der neuen Schule, Sonja, mich, stell dir vor. Wohl weil sie gerade niemand anders fanden, der bei gleicher Qualifikation politisch unbelastet war. Man fand ja jetzt im Osten fast bei jedem irgendwelche Leichen im Keller. Und wo keine waren, da trug man sie hinein. Aber ich war ja auch in der Partei gewesen und hatte mich Kommunistin genannt. Vielleicht brauchten sie mich als Beweis ihrer demokratischen Toleranz gegenüber der gestürzten sozialistischen Diktatur.

      Ich wollte mich hineinknien, Sonja, ich wollte bestätigen, dass mir zu Recht vertraut wurde - aber da passierte etwas, das mir weder in die alte noch in die neue Schule zu passen scheint, eher in unsere Studienzeit, Sonja, dort gehört es vielleicht hin, ich erinnere mich nicht, dafür bist du zuständig.

      Was ich erzählen will: Mein erster Tag in der neuen Schule, ich hatte die Nacht kein Auge zubekommen und stand schon kurz nach Sonnenaufgang auf dem Schulhof mit klopfenden Herzen und feuchten Handflächen. Ich versuchte durchzuatmen und sagte mir immer wieder: "Das schaffst du schon." Ich schaute zum Himmel auf, ob neuerdings nicht doch ein Täuberich mir freundlich zublinzelte. Aber der Himmel blieb leer, ein schmutziges Taubenblau, als hätte jemand, der längst weitergezogen war, eine alte Decke ausgebreitet, auf der Essenkrümel und Papierreste herumlagen. Es würde wieder ein schwüler Tag werden, schon jetzt war die Luft schwer zu atmen. Nichts Hilfreiches zu erkennen, ich würde mich also auf der Erde zurecht finden müssen - da bewegt es sich im Wipfel des Baumes, schaukelnd, als hätte soeben ein großer Vogel darin aufgesetzt. Bald aber kam Ruhe in die Baumkrone, ich glaubte schon, mich getäuscht zu haben, als das Auf und Ab der Zweige und Blätter erneut einsetzte und ich ein paar weiße Turnschuhe, nackte Beine, einen schwarzen Pulli und schließlich den Kopf eines Jungen entdeckte.

      Da saß also ein Junge im Baum, was weiß ich, wie viel Meter über der Erde, hoch genug, um sich etliche Knochen, wenn nicht gar den Hals zu brechen.

      Ich erschrak, zugegeben, weniger wegen dem, was dem Jungen passieren konnte, vielmehr, was mit mir geschehen würde, wenn er nicht heil von da oben herunterfände. So eine Situation war mir noch nicht vorgekommen, ich hatte darüber nie etwas gehört und gelesen, was sollte ich tun? Der Junge musste vom Baum, bevor Lehrer und Schüler kamen.

      "Du", sagte ich, "du da oben." Ich sprach wie zu einem Schlafwandler, den man nicht wecken darf, wenn er auf den Dächern spazieren geht.

      Aber da oben regte sich nichts. "Hallo", sagte ich etwas lauter. "Hörst du mich?"

      Ich bekam keine Antwort, die Zweige und Blätter im Wipfel zitterten nur kurz. Der Straßenlärm wurde lauter, durch eine Häuserschlucht blendete mich das Sonnenlicht, ich fühlte, wie ich meine frische Bluse verschwitzte, ich verspürte das Bedürfnis zu weinen, jemandem um den Hals zu fallen, meinen Kopf an seine Brust zu lehnen, drauflos zu heulen.

      "Bitte", sage ich. "Du, ich sehe dich doch da oben. Komm herunter, und langsam, und sieh nicht nach unten, du brauchst keine Angst zu haben."

      Und ich stellte mich unter den Baum und breitete tatsächlich das Ende meiner Bluse aus, als könnte ich den Jungen darin auffangen. Zugleich war mir bewusst, dass der Junge auf dem Baum bleiben würde, er wollte oder konnte mich nicht hören, da kam etwas auf mich zu, von dem ich keine Ahnung hatte. Auf alles war ich vorbereitet worden, sogar auf den Abwurf einer Atombombe, nur eben nicht darauf, dass ein Junge im Schulhof auf einem Baum sitzt.

      Liebe Sonja, weißt du noch, was Grützner uns lehrte als oberstes Gebot für einen Lehrer: "Niemals die Fassung verlieren." Wir sollten uns das vorstellen wie bei einer Glühlampe, käme die aus der Fassung, sei es ringsum zappenduster. Wir nannten ihn "Rotlicht", weil er jede Rede mit "Die Partei meint ..." begann und ein bedingungsloser Dogmatiker war, aber auch wegen seiner Vergleiche aus der Elektrotechnik, denn er liebte es wohl mehr, sich in komplizierte Schaltungen zu vertiefen als uns in Psychologie zu unterrichten.

      Du, ich bin außer Fassung, und das Unglaubliche ist eingetreten, ich stehe nicht im Dunkeln, ganz im Gegenteil, ich sehe mehr Licht als je zuvor, verschiedene Strahlen sozusagen, die von hier und da aufblitzen, dass es mich dreht, bis mir schwindlig wird. Ich sehe Sterne, Sonja, am helllichten Tag, es ist verrückt. Aber lass dir erzählen, was weiter passierte, ich befürchte ohnehin schon, dass ich mich dir nicht verständlich machen kann, denn ich begreife mich selber nicht.

      Der Junge kam nicht vom Baum herunter, Lehrer und Schüler standen inzwischen auf dem Schulhof und schauten nach oben. Ich sah sie innerlich grinsen in dieser Art Schadenfreude, die ich von mir selbst kenne, wenn ich beobachte, wie einer, der es allzu eilig hat, über seine eigenen Füße stolpert. Ich wusste genau, was sie dachten: Mal sehen, wie die Kleine damit fertig wird. Ich glaube, ich habe geschrien, zum ersten Mal in meinem Leben.

      "Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst ...! Du wirst was erleben!"

      So hilflos, so allein, so verlacht habe ich mich selten gefühlt, es war wie in einem Traum, wenn man plötzlich nackt vor all den Leuten steht.

      Ich lief in mein Zimmer und suchte die Telefonnummer von Roberts Betrieb heraus, wählte sie, sagte meinen Namen und dass ich meinen Mann sprechen möchte. Als ich seine Stimme hörte, selbstbewusst und klar - "Hier Wendisch" -, legte ich den Hörer auf. Von der alten Schule aus hatte ich ihn nie angerufen, mir wäre nicht der Gedanke gekommen, ihn zu stören. Er arbeitet als Ingenieur im Fernmeldeamt, und seit wir uns kennen, meint er, er stünde kurz davor, mit einem Verstärkersystem den Weltmarkt zu erobern. Er sagt, wir hätten beide wichtige Aufgaben zu erfüllen, wobei wir uns nicht stören sollten, am Abend dann könnten wir über alles reden.

      Ich erkundigte mich nach dem Jungen auf dem Baum, er heißt Hans Schorn, ist vierzehn Jahre alt, geht in die achte Klasse, hat einen Zensurendurchschnitt von zweikommaacht und ist bisher in keiner Weise auffällig geworden. Oh Himmel, Sonja, das klingt wie ein Polizeibericht, aber mehr wissen wir oft nicht voneinander, und nun weiß ich, dass das nicht reicht. Erinnerst du Dich noch an Frau Palluschke, diese Riesendame mit dem Milchkuhbusen, tortensüchtig und asthmatisch, sie unterrichtete in Vertretung Philosophie, wir nannten sie "Kügelchen" und erledigten in ihrem Unterricht die Hausaufgaben für andere Fächer. Also Kügelchen - jetzt fällt mir so manches wieder ein -, sie sagte einmal in der Pause: "Es ist unmöglich, sich wissend zu machen, wenn es einem an Glauben fehlt."

      Sonja, du, ich habe Angst, dass es mir an Glauben fehlt und dass ich darum nicht ein noch aus weiß. Ich denke, man hat uns eine Menge gelehrt, nur nicht, wie man daran glauben kann, davon war nie die Rede. Aber die Geschichte von dem Jungen auf dem Baum verlangt Glauben, das Wissen darum lässt mich allein.

      Also ich wusste, dass der Junge Hans Schorn heißt. Sein Klassenlehrer ist Herr Hausmann, ich kenne ihn von der alten Schule her, dort gehörte er zu den lieben Alten, die mich "mein Mädchen" nannten. In der neuen Schule ist er inzwischen ein anderer geworden; aber ich kann mir kein Bild von ihm machen, es ist so, als ließe er das nicht zu. Hausmann steht kurz vor der Pensionierung, er ist der Einzige von den Alten in der neuen Schule, und mir war anfangs so, als hätten sie ihn mir als Vaterfigur mitgegeben, damit ich jederzeit weiß,

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