Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß

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Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß

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nächsten Tagen auf den Baum kletterte und Minuten bis Stunden auf ihm verbrachte, ließ ich mir den alten Hausmann in mein Zimmer kommen.

      Ich hatte mich geschminkt und zurechtgesetzt, ich hielt den Kugelschreiber in der Hand, und ein Blatt Papier lag vor mir auf dem Schreibtisch. Ja, ich war aufgeregt, wie sollte ich reagieren, wenn er "mein Mädchen" zu mir sagen würde. Aber es kam anders, ich bekam Wut, ja Hass auf ihn, wie er so vor mir stand. Du musst dir einen Riesen vorstellen mit Gicht und Rheuma, was weiß ich, im grauen Anzug, weißem Hemd und schwarzem Binder, alles zerknittert, die Hände auf dem Rücken, den schweren Kopf gesenkt und so ein Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Er erinnerte mich an meinen Vater und all die Männer, die seine Rolle übernommen haben, die sich mir immer stark zeigten und scheinbar das Richtige zu sagen wussten. Nur, dieser Hausmann zeigte mir noch eine andere Seite von sich, die mir bisher verborgen geblieben war, eine schwache Seite, gebrechlich und müde. Vielleicht war er nur ehrlich, aber gerade das verzieh ich ihm nicht, denn so sehr ich manchmal unter der Allwissenheit und Unangreifbarkeit meines Vaters gelitten habe, unsicher, vielleicht gar schwach wollte ich ihn nicht sehen.

      Ich ließ Hausmann stehen wie einen Schuljungen, der Autorität zu spüren bekommen muss. Ich warf ihm vor, dass Hans Schorn, der mit seinem disziplinlosen Verhalten die Schule in Verruf bringen würde, sein Schüler sei, und ich fragte ihn, wie lange er sich den Vorgang noch mit ansehen wolle. "Bringen Sie das schnellstens in Ordnung!" sagte ich ihm. Er ging aus meinem Zimmer ohne Gegenwehr, ich schämte mich, begriff nicht warum, und wusste, dass die neue Schule nicht einfach nur ein neuer Anfang war. Ich trat an das Fenster und sah auf den Schulhof, der Baum zeigte das einzige Grün weit und breit, der Junge saß nicht darin, es war Hofpause, ich wünschte mich in eine Gruppe Mädchen der achten Klasse, die in einem Kreis zusammenstanden.

      Ach, Sonja, es ist gut, dass es dich gibt, dass ich weiß, du wirst diese Zeilen lesen. Weißt du noch, weißt du noch? Ich befinde mich wie in einem Zug, der mich fährt, irgendwohin, und ich erinnere mich einer Traumhaltestelle, wo der Sommer so lang war, so warm und so bunt, dass ich glaubte, er muss ewig dauern. Mir fällt auf, dass ich beim Schreiben lange Sätze bilde, ich fürchte mich, einen Punkt zu setzen, bevor ich begreife, was an meiner Schule passiert.

      Ich bin ja so klug, Sonja, dass es mir oft weh tut. Ich weiß vielleicht manches, habe aber wenig begriffen. Der Körper, nun ja, der ist so weit in Ordnung, der Geist, er arbeitet einigermaßen - aber die Seele, Sonja, mit der Seele hatten wir doch nie etwas zu tun. Dachten wir. Auch jetzt ist das so. Aber sie ist da, dieses unsichtbare Fädchen zieht wie die Spinne ein Netz um uns und lässt uns zappeln.

      Jeden Tag geschieht so viel Schlimmes, und ich bedaure es pflichtgemäß, aber es tut mir nicht wirklich leid. Wenn ich lachen muss, so sagt mir das mein Denken, verstehst du, es überrascht mich nicht. Und Robert, mein Mann - ob ich ihn liebe? Was ist das eigentlich - Liebe? Wenn ich dich das frage, schäme ich mich. Es ist, als würde ich mir damit selbst alle Rechte zum Leben entziehen. Warum nur kann ich an nichts glauben? Warum nur?

      Denkst du manchmal noch an Doktor Schindler, der ein Semester lang unser Schwarm war, groß, schlank, dunkelhaarig, traurige braune Augen und schmale weiße Hände? Er trug maßgeschneiderte Anzüge und kam auf einem uralten klapprigen Fahrrad in die Hochschule. Sein Spitzname war Sensibelchen, aber wir nannten ihn Felix Krull, er unterrichtete Deutsch und Literatur und mühte sich, uns Ahnungslosen die Werke von Thomas Mann nahezubringen. Vom Zauberberg und den Buddenbroocks weiß ich nicht mehr viel, aber ich mag noch immer Schachtelsätze, die den Leser nicht aus der Geschichte lassen. Also wenn ich mich richtig erinnere, hat Doktor Schindler einmal sinngemäß gesagt: Du musst Läufer sein. Das ist Bestimmung. Entweder du läufst in eine Gruppe hinein und löst dich in ihr auf, oder aber du rennst ihr davon und sitzt in dir selbst gefangen. In beiden Fällen kann dir keiner zu nahe kommen.

      Ich glaube, der Mann war sehr allein, damals konnte ich mir das nicht vorstellen, heute aber doch, denn ich bin mitten in der Gruppe, zum Alleinlaufen und Davonrennen habe ich nie Lust verspürt oder den Mut aufgebracht.

      Zugegeben, ich lenke von meiner Geschichte oder von dem, was ich dir erzählen will, ab, ich komme dir mit Erinnerungen, Sprüchen und Bildern.

      Also weiter, weiter. Der Junge, Hans Schorn, kletterte plötzlich nicht mehr auf die Kastanie, er war zwischen den Jungen und Mädchen verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Also hatte Hausmann ihn sich vorgenommen, und der Erfolg gab mir recht. Aus und vorbei die Angelegenheit, dachte ich, und atmete tief durch, mir war, als hätte mir eine Gefahr gedroht, der ich gerade noch einmal entkommen war. Der Junge auf dem Baum, verrückt, ich wollte schnell vergessen und stürzte mich in die Arbeit, die mir kaum eine Pause gönnte, was mir ganz recht war. An den Abenden überredete ich Robert zu Kinobesuchen, so oft kamen wir sonst das ganze Jahr nicht von zu Hause weg. Anschließend gingen wir Essen oder bummelten durch die Innenstadt, bis ich dann nur noch schlafen wollte. Zum Wochenende setzten wir uns ins Auto und fuhren über vierhundert Kilometer bis zur Ostsee, sahen von der Warnemünder Mole auf die See, die wie ein Dorfteich vor uns lag, verbrachten die Nacht in einem Strandkorb oder im Auto, und am nächsten Tag rasten wir auf der Autobahn zurück. Und doch war es schön, ich kann nicht sagen warum, vielleicht weil nichts geplant war.

      "Was ist los mit dir?", fragte mich Robert schließlich, er hatte sich meinen Wünschen widerspruchslos gefügt, aber ich spürte, er war beunruhigt und misstrauisch, so kannte er mich nicht.

      "Was soll sein?", fragte ich zurück. "Nichts ist. Danke".

      "Ist schon gut", sagte er, und diesmal war ich froh, dass er nicht mehr von mir wissen wollte.

      Bei Hausmann bedankte ich mich, wir grüßten uns freundlich aus der Entfernung, als würden wir ein Geheimnis miteinander teilen, an dem besser nicht zu rühren ist. Ich wollte schnell vergessen, und was war denn schon passiert, ein Junge hatte auf einem Baum gesessen, na und, das kommt alle Tage vor, ich hatte nur etwas nervös reagiert, kein Wunder, es war mein erster Schultag als Direktorin gewesen.

      Vergessen, den Vorgang abhaken mit einem roten Bleistiftstrich, konnte ich nicht. Du, ich bin es nicht gewöhnt, mir selbst Fragen zu stellen, das hat mir niemand beigebracht, zum Beispiel die Frage: Warum beunruhigt dich der Junge auf dem Baum? Etwas in mir war wach geworden, ich nenne es ‚drittes Auge‘, und ich kann es einfach nicht wieder schließen, es macht mich unruhig und krank.

      Mit diesem dritten Auge sah ich den alten Hausmann, in dem etwas vorging, das auch mich betraf. Der Alte, den ich müde und Aufregungen scheuend kannte, machte den Eindruck, als fühle er sich von irgendetwas bedrängt und manchmal gar gehetzt. Ich sagte mir, dass ihm die Schwüle zu schaffen mache, das Alter, Kreislaufprobleme, und wie ich erfuhr, der noch nicht lange zurückliegende Verlust seiner Frau. Er ist ein Gartennarr, soll sich auf Rosenzucht spezialisiert haben, ein Einsiedler vielleicht, der seine Einsiedelei nicht erträgt. Eines Abends bin ich durch den Gartenverein ‚Zur Erholung‘ gegangen, sagen wir, ich bin an den Zäunen entlang geschlichen, ich wollte mich überzeugen, dass ich mich täusche, dass es Hausmann gut geht, ich wollte sehen, wie er Rosen schneidet, sie gießt, und wie er vor seiner Laube sitzt, ein Bier trinkt und in den Himmel sieht, was für Wetter wird. Aber er war nicht in seinem Garten, ich entdeckte nur überall Spuren seiner großen und klobigen Schuhe. Der Garten sah unordentlich aus, den Bäumen und Blumen fehlte Wasser, Tomaten vertrockneten auf der Erde, ein Korbstuhl war umgekippt, das Fenster der Laube war blind.

      Ich musste endgültig einen Schlussstrich ziehen, meinem dritten Auge verbieten, sich umzusehen, denn was es sah, forderte den nächsten Blick heraus und so weiter, es kam kein Bild zustande, das ich fertig abheften konnte. Das dritte Auge riss ein Loch nach dem anderen auf, und bald würde ich vor einem Abgrund stehen, wenn ich nicht aufpasste. Ich suchte nach Haltepunkten und Griffen, nach festen Größen, an denen nicht zu rütteln war, aber alles zeigte sich mir wacklig, nur der alte Baum auf dem Schulhof stand fest. Kannst du dir vorstellen, dass ich sogar auf den Gedanken kam, ihn fällen zu lassen? Aber die

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