Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß

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Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß

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dass er dem Gefühl von Enge wohl nie entkommen würde. Soweit er sich zurückerinnerte, hatte es ihn bis auf wenige Augenblicke der Losgelöstheit immer begleitet.

      In Berlin mussten die Reisenden den Zug verlassen. Uniformierte kontrollierten die Abteile. Erst nach einer halben Stunde durften sie wieder zusteigen. Die Jungen hatten Spaß am Gewühl und Gejohle. Die Alten schimpften und verschafften sich rempelnd ihren Sitzplatz. Ein paar Haltestellen später wurde die Diesellok aus inländischer Produktion gegen ein rumänisches Fabrikat getauscht. Gleich waren Spottnamen zu hören, wie „Ceausescus Rache“ und „Karpatenschreck“. Je weiter sie in Richtung Norden fuhren, umso langsamer kam der Zug voran. Obwohl als Schnellzug ausgeschrieben, hielt er inzwischen an jeder Kleinstadt. Ein rothaariger Student, der vor seiner Freundin fortwährend prahlte, wollte wissen, dass es auf der Strecke einen Unfall gegeben hatte. An einem Bahnübergang sei ein Lastwagen in den Waggon eines Güterzugs gerast. Der Schaffner spräche von Verletzten und Toten.

      Die Zugfahrt erinnerte Boris an Berichte von Erwachsenen, die ihre Reise an die See in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als höchst langwierig und umständlich beschrieben hatten. Er hatte auf eine Fahrt mit E-Lok und Doppelstockwagen in nicht so bedrängender Enge gehofft.

      Wenn der Zug nach all den Aufenthalten wieder anruckte, wurde das jedes Mal mit großem Hallo begrüßt. Die Jungen und Mädchen, die mit Boris ins Ferienlager fuhren, waren ihm zu laut und aufgedreht. Ihre Gesichter glänzten fiebrig, es gab Gespött und Zänkerei, Witze wurden erzählt, deren Pointe in übermütigem Gelächter unterging. Die Abteile waren überfüllt, Kleinkinder lagen im Gepäcknetz, junge Leute machten sich einen Spaß, an den Haltestellen durch die Fenster zu- oder auszusteigen. In den Kurven ratterten und knirschten die Waggons. Manchmal warf es die Fahrgäste durcheinander oder schüttelte sie, als würde der Zug über Kopfsteinpflaster fahren. Dann bremste er wieder schrill, von einem Signal oder Haltepunkt aufgehalten. Die Lok surrte wie ein überdimensionales Insekt, die Luft, selbst Gegenstände vibrierten, der Diesel roch nach faulen Eiern. Aufbrüllend wie ein geschundenes Tier setzte sie sich endlich wieder in Bewegung.

      In Stralsund mussten sie umsteigen. Diesmal zog die fabrikneuen Wagen, allgemein beklatscht, eine der gewaltigen Dampfloks, die weitgehend aus dem Verkehr genommen waren. Boris stand in dem mit Menschen und Gepäck verstopften Gang, hielt seinen Kopf aus dem heruntergezogenen Fenster und ließ sich vom Fahrtwind den rußigen Dampf, den die Lok kurz und heftig auspaffte, ins Gesicht blasen. Die Pfiffe, die der Koloss hin und wieder ausstieß, klangen dem Jungen lustlos in den Ohren. Er fühlte sich müde, ja alt, jedenfalls älter als die in den Abteilen lärmenden Jungen und Mädchen und ihnen nicht zugehörig. Er wünschte, krank zu sein und sich in seinem Bett verkriechen zu können. Wenn er die brennenden Augen schloss, beunruhigte ihn Annas Blick. Vor ein paar Tagen hatte die Großmutter ihn immer wieder angesehen und, wenn er aufschaute, weggeblickt. Obwohl er die Antworten fürchtete, hatte er Fragen gestellt. Über Nacht dann war ihm in wirren Träumen das Bild seiner Mutter verloren gegangen. Am Morgen hatte er es in seine Gedanken zurückzwingen wollen. Er hatte sich Fotos angesehen und sie zu zeichnen versucht. Aber die Mutter blieb hinter einer Schattenwand verborgen.

      Zehn Stunden waren sie nun unterwegs und noch immer nahm die Fahrt kein Ende. Boris sehnte sich bereits jetzt in das Auendorf zurück. Lerchau lag eingebettet in der Tieflandbucht zwischen Leipzig und Halle. Dort war alles überschaubar, ob er sich nun in seinen Tagträumen als Vogel in die Lüfte schwang oder als Frosch an den Boden drückte und zum Himmel aufschaute. Ihm fehlte Brunos schwere Hand auf der Schulter, sein schaukelnder Gang und der ihm anhaftende Geruch nach Tabak und saurem Schweiß. Vor allem aber vermisste er Annas besorgten Blick, ihr Augenzwinkern, wenn sie sich ertappt fühlte und ein Lächeln über ihr gebräuntes Gesicht huschte. Die Großeltern gaben ihm das Gefühl, etwas wert zu sein, mehr als ihr selbst gebautes Haus, vielleicht sogar mehr als ihr eigenes Leben.

      Der Junge sah die kommenden Wochen wie ein endlos weites Feld vor sich liegen. Er wusste nicht, wie er da hinüberkommen sollte.

      2.

      Als sie auf der Insel den Zug verlassen konnten, waren sie steif und müde.

      Dann endlich, nach langem Fußmarsch, den von Anna gepackten Rucksack geschultert, stand der Junge vor dem Meer. Sekundenlang war er wie geblendet. In diesem Augenblick schien sich alles, was eben noch in unzähligen Teilen durcheinanderwirbelte, vereinigt zu haben. Er ballte die Hände gegen dieses Sausen und Schwirren in ihm. Wieder im Gleichgewicht, riss er die Augen auf und trank gierig die Weite, das Grün und das Blau. Das alles hatte er so noch nie gesehen. Sein Blick reichte bis zum fernen Horizont. Nur ein in Grautönen fein überlagerter Strich, den wohl kein Mensch so zeichnen konnte, trennte Meer und Himmel voneinander.

      Die Jungen, die selbst in den abseits gelegenen „Lehmlachen“ im heimatlichen Auenwald nie nackt badeten, rissen sich die Sachen vom Leib, rannten mit Geschrei ins Wasser und sprangen kopfüber in die rhythmisch heranrollenden Wellen. Die Mädchen zierten sich, sie beratschlagten kichernd. Als das erste schließlich im Badeanzug ins Wasser rannte, schlüpften auch die anderen flink in ihre Badeanzüge und Bikinis und rannten kreischend hinterher.

      Die Lehrer und Betreuer sahen amüsiert dem Badevergnügen zu. Sie hätten wohl gern mitgetan, doch sie waren einander noch wenig bekannt und warteten erst einmal ab.

      Der Pionierleiter kam lachend heran und blieb neben Boris stehen, der, noch immer fasziniert vom Anblick der See, zurückgeblieben war. Lothar Womacka war Mitte zwanzig, ein ehemaliger Spitzensportler, der im Amateurboxen zum Olympiakader gehört hatte. Die Schüler nannten ihn „Ali“, nach dem schwarzen Boxgenie Muhammad Ali, was er sich gern gefallen ließ.

      „Beeindruckend, was?“

      Ali schattete mit einer Hand seine Augen ab und schaute aufs Meer. Durch seine gerade und straffe Haltung wirkte er geradezu übermächtig. Wenn Boris neben ihm stand, bemerkte er überrascht, dass Ali nicht so groß war, wie er ihn immer vor Augen hatte. Der Junge machte sich unwillkürlich kleiner.

      „Dein erstes Mal, stimmt.“

      Ali stellte den Koffer ab, der mit Abziehbildern von Ländern Osteuropas beklebt war, und nach kurzem Zögern auch den großen Vogelkäfig. In ihm hüpfte „Sandra“, ein selten gewordener Kolkrabe, schwerfällig von Stange zu Stange und krächzte, dass es wie sattes Rülpsen klang.

      Nun setzte auch Boris seinen Rucksack ab. Er drehte sein Gesicht weg und wischte mit dem Jackenärmel darüber. Gern hätte er mal losgeheult. Das Gespött der Jungen fürchtete er nicht. Aber Alis Verachtung hätte er nicht ertragen. Er nickte eifrig, als Ali verschwörerisch sagte: „Kriegen wir hin, versprochen.“

      „Ja“, sagte Boris. „Ja, klar.“

      Ali lachte, da lachte auch Boris, der Pionierleiter ging in Boxerstellung und schlug eine linke und rechte Gerade am Kopf des Jungen vorbei.

      „Wie wir das hinkriegen, immer!“

      „Ja, Ali! Ja!“

      3.

      Das Zeltlager befand sich unweit dem kleinen Fischerdorf Dranske, etwa fünfzehn Kilometer von Kap Arkona, dem nördlichsten Punkt der Republik, entfernt. Der dunkle Wald aus hochgewachsenen Kiefern und Fichten und vereinzelt stehenden mächtigen Buchen war stellenweise etwa zweihundert Meter breit und zog sich an der steil abfallenden Küste hin. Größere Geländeabschnitte waren von hier stationierten Grenztruppen besetzt und für Einheimische und Urlauber streng gesperrt. In einem frei zugänglichen Waldstück und anschließender Heide hatte eines der über die Insel verstreuten Pionierlager seinen Platz.

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