Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß

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Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß

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sein? Fliegen vielleicht. Wer konnte schon fliegen? Aus eigener Kraft. Menschen jedenfalls nicht. Die Vögel konnten es. Und Engel. Jetzt fing er auch noch zu spinnen an. Wie dieser schwabbelige Junge.

      Standke beendete endlich seinen Vortrag, dem er schließlich nur noch selbst zugehört hatte. Mit Ali voran verließen sie das Nordkap. Sie liefen in einer langen Schlange, die bald in kleine Gruppen zerfiel, zum Lager zurück. Boris und Malisch gingen am Ende nebeneinander her. Der milchgesichtige Junge blickte manchmal zurück, wo die Entfernung Land, Meer und Himmel eins werden ließ und ins Unendliche verschob.

      Obwohl Ulrike Blau weit vorn lief, trug der Wind Fetzen ihres Lachens zu Boris heran. Dann lief er unwillkürlich schneller. Nach ein paar Schritten zwang er sich stehen zu bleiben und passte sich erneut Malischs gemächlichen Schritten an.

      Boris sah zu Ulli und dachte an Vera, ein Mädchen aus der Stadt, mit dem er vor ein paar Wochen zusammengekommen war. Sie hatte im Frühjahr Verwandte, die in Lerchau in der Genossenschaft arbeiteten und nebenher etwas Vieh hielten, besucht. Im Dorfkonsum, wo Boris für die Großmutter den Einkauf erledigte, hatte das Mädchen ihn gefragt: „Soll ich mein letztes Geld für Eis oder für meine Lieblingsbonbons ausgeben?“ Bis zum kleinen Gehöft der Großeltern war sie neben ihm hergegangen. Er hatte sie dann zum Grundstück ihrer Verwandten gebracht. Ihre Mutter wartete bereits, um sie mit zurück in die Stadt zu nehmen. Vera hatte noch schnell Namen und Adresse auf die inzwischen leere Bonbonschachtel gekritzelt und gesagt: „Schreib doch mal. Ich bekomme gern Briefe.“

      Der erste Brief war Boris schwergefallen, obwohl er nur aus vier Worten bestand: Wie geht es Dir? Vera hatte ihm gleich geantwortet, ihre Unbekümmertheit gab ihm schnell das Gefühl von Nähe. Fast täglich gingen zwischen ihnen Briefe hin und her.

      Boris erzählte keinem von ihr. Die Post fing er bei der Briefträgerin ab. Mit den derben und prahlerischen Geschichten und Witzen, die die Jungen einander über Mädchen erzählten, konnte er nichts anfangen. Er lachte mit, um nicht aufzufallen und womöglich in den Mittelpunkt ihres Spotts zu geraten. Niemals hätte er sich einem von ihnen anvertraut. Dann passierte das mit seiner Mutter. Vera hatte gefragt, warum er denn nicht mehr auf ihre Briefe antworten würde? Was ist denn bloß los, Junge? Er hatte keine Worte mehr für sie gefunden.

      „Na, los doch“, mahnte Malisch. „Der große Chef hat´s nicht gern, wenn einer zurückbleibt.“

      „Weiß“, sagte Boris. „Komme schon.“

      5.

      Boris starrte auf die fleckige Zeltplane, er neidete seinen drei Mitbewohnern die regelmäßigen Atemzüge. In seinen Gedanken tauchten im schnellen Wechsel die Gesichter der beiden Mädchen auf. Vera und Ulli. Jede sah ihn fragend an.

      Er kroch aus seinem Schlafsack und tastete sich nach draußen. Unter den Fichten und Kiefern war die Luft unwirklich blau, scheinbar aus feinem Glas, das bei jeder Bewegung leise zu singen schien. Vom Meer her klang es herauf wie das entspannte Ausatmen eines gewaltigen Wesens. Dem Jungen war, als müsste er etwas suchen, von dem er noch nichts wusste.

      Er ging den gewohnten Weg zum Waschplatz. Hier fanden auch die morgendlichen Appelle statt. Am Waldrand stand eine hüfthohe und mehrere Meter lange Zinkwanne. Über ihr verlief ein Rohr mit eine Reihe von Wasserhähnen, von denen nur noch ein paar gebrauchsfähig waren. Am Ende der Lichtung standen neben einem Abfallcontainer zwei aus Bohlen und Brettern zusammengenagelte Toilettenhäuschen. In das raue Holz waren jeweils die Symbole für Frauen und Männer und eine Vielzahl eher karikaturistischer Abbildungen des Geschlechts eingeritzt. Etwas weiter weg befand sich ein drittes etwas komfortableres Häuschen, für das nur die Betreuer einen Schlüssel hatten. Jeden Morgen standen an den beiden Häuschen Mädchen und Jungen in getrennten Reihen Schlange, erzählten Witze, lachten lauthals und tauschten Neuigkeiten aus. Ab und zu rannte ein Junge oder Mädchen mit auf den Unterleib gepressten Händen in den Wald, vom Johlen der Zurückgebliebenen begleitet.

      Das Mondlicht fiel auf einen Spiegel, der an einem überhängenden Ast mit einer Schnur befestigt war. Das Glas war stellenweise trübe, an den Rändern waren noch Spuren eines goldlackierten Holzrahmens. Als Boris an den Spiegel herantrat, begann der lautlos zu drehen. Der Junge hielt ihn fest und näherte sein Gesicht vorsichtig dem Glas. Noch nie hatte er so bewusst in einen Spiegel geblickt. Er sah in ein fremd anmutendes Jungengesicht: Helle, wegen der ungeliebten Locken kurz geschnittene Haare. Auf der Nase und auf den Wangen unter der Bräune Sommersprossen. Trockene, leicht geöffnete Lippen. Ein ausgeprägtes Kinn, aus dem Ali auf starken Willen und „Nehmerqualität“ geschlossen hatte.

      Boris blickte seinem Gegenüber in die Augen, sagte leise: „Na du?“ Das vertrauliche Augenzwinkern erwiderte er nicht.

      Die Gesichter der beiden Mädchen waren in den Hintergrund gerückt. Im Vordergrund war das Gesicht des Jungen aus dem Spiegel. Er ging zurück ins Zelt, es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen.

      6.

      Am nächsten Morgen, beim Appell unter der blauen Fahne der Thälmannpioniere, fing Boris einen Blick Ullis auf. Die beiden Mädchengesichter verdrängten wieder sein eigenes Bild. Die Unruhe kehrte in ihn zurück, eine Frage bedrängte ihn, die er nicht formulieren konnte.

      Er blickte zu Ali, der schallend sein Lieblingslied anstimmte: „Von all unseren Kameraden ...!“

      Die Jungen und Mädchen stimmten willig ein, dass der Chor weithin schmetterte: „ ... war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut ...!“

      Ullis dunkle Augen, in denen ein Lachen hüpfte, blickten Boris unverwandt an.

      „... Da kam eine feindliche Kugel bei einem fröhlichen Spiel; mit einem seligen Lächeln unser kleiner Trompeter, er fiel!“

      Boris hatte Mühe einen Rempler auszubalancieren. Kalinke hatte sich vor ihm aufgebaut. Er war etwas kleiner als Boris, aber muskulöser, sein Gesicht war hart und kantig, als sei es aus hartem Holz und noch nicht fertig geschnitzt.

      Kalinke drohte mit mühsam beherrschter Stimme, die männlich tief, aber zwischendrin mädchenhaft hoch klang: „He, Pflaume, geh mir aus dem Weg. Misch dich bloß nicht ein.“

      „Da nahmen wir Hacke und Spaten und gruben ihm morgens ein Grab, und die ihn am liebsten hatten, sie senkten ihn stille hinab!“

      Boris erschauerte jedes Mal, wenn sie das Lied sangen. Er konnte nicht verstehen, dass sie so laut und fröhlich sangen, wo doch einer von ihnen tot war.

      „Du bist doch kein Idiot.“ Kalinke drückte ihm die Faust in den Rücken. „Oder soll ich dich erst fertigmachen?“

      „Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, wir waren dir alle so gut, ...“

      Boris verstand nicht. Das war auch egal. Er konnte Kalinke einfach nicht ausstehen. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Klassenzimmer hatte der Kraftprotz ihm zu verstehen gegeben, dass er das Sagen hatte. Kalinke war immer verschwitzt, in der Schule hatte er jeden Tag ein frisches Hemd an. Boris fand, er roch dennoch wie ranziges Fett.

      „... schlaf wohl, du kleiner Trompeter, du lustiges Rotgardistenblut!“

      Boris sah zu Ulli hinüber und sagte: „Du stinkst, Kalinke.“

      Kalinke schlug zu. Boris konnte noch die Deckung hochreißen. Doch der folgende Haken traf seine

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