Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß

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Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß

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Kleine Erfolge noch. International, Ende, aus. Zu spät, alles. Die Frau. Der Biss, war weg. Sandra. War so.“

      „Jetzt, hör zu, Kämpfer.“ Der Trainer blieb stehen, legte Boris die Hände auf die Schultern und sah ihn zwingend an. „Gegen Kalinke, wirst antreten. An Mädchen, denk nicht. Aus dem Kopf, schlag sie dir. Denk an den Kampf. Den Sieg, nur das.“

      Boris fröstelte, ihm war heiß. Das war wohl der heilige Ernst der gerechten Sache, von dem er gehört und der ihn nun erfasst hatte. Er hob die Hand zum Schwur und sagte mit fremder Stimme: „Ja, Ali!“

      „Tipp“, sagte der Trainer. „Im Ring, vergiss Kalinke, wer dein Gegner auch ist. Was gilt?“

      „Wir oder die!“

      Ein paar Meter vor einem militärischen Sperrschild kehrte Ali um. Sie liefen zurück durch vielfach gebrochenes Licht, als wäre über die Insel ein feinmaschiges Netz gespannt. Am Horizont irrlichterten Positionslampen von Schiffen. Ali beschleunigte seine Schritte. In der Dunkelheit war es verboten, sich am Strand aufzuhalten.

      Im Lager hatten sie sich bereits schlafen gelegt. Auf der Lichtung standen die Zelte wie eine Herde schlafender Tiere. Der Trainer verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken. Boris kroch ins Zelt, sah durch einen Spalt, wie Ali die Tür des Käfigs öffnete und dem Kolkraben über das im Mondlicht perlmuttfarbene Gefieder strich. Der Vogel stieß glucksende Laute des Wohlbefindens aus, die in ein zärtlich klingendes Flöten übergingen. Der Junge robbte auf sein Lager und lauschte, bis es still war.

      8.

      Im Lager fieberten sie dem Boxkampf entgegen. Frau Wieland war in aller Frühe abgereist. Ein Taxi sollte sie abgeholt haben. Keiner sprach darüber. Standke gab beim Morgenappell bekannt, dass er mit der getroffenen Entscheidung, die beiden Rowdys im Lager zu belassen, nicht übereinstimmen könnte. Nach Rückkehr würde er bei der Schulbehörde die „Entgleisung“ sowie die „pädagogisch unwirksame Erziehungsmaßnahme“ zur Sprache bringen. Wenigstens nachträglich sollte die Ordnung wieder hergestellt werden. Ali schwieg dazu. Auch keiner der anderen Betreuer wagte, Dschugaschwili etwas zu entgegnen. Müller war, wie erwartet, nach seinem Aufmucken wieder der in sich gekehrte und meist übersehene Mathelehrer, dessen „Auftritt“ inzwischen etwas Unwirkliches hatte.

      Für den Kampf wurden Wetten abgeschlossen. Nur Ulli und ihre engsten Freundinnen setzten ein wenig von ihrem Taschengeld auf Boris. Wenn Boris zu Ausdauerläufen unterwegs war, begleitete Malisch ihn auf einem klapprigen Fahrrad. Was anfangs wie Zufall ausgesehen hatte, bekam bald Regelmäßigkeit und eine gewisse Vertrautheit. Für Boris war der Junge nicht mehr nur Malisch. Er war jetzt Ralle. Das schien nie anders gewesen zu sein.

      Ralle sprach auf Boris ein, er solle doch das „Herumrennen“, die geplante „blödsinnige Hauerei“ und die damit verbundene „Beschädigung des Denkapparates“ aufgeben. Er faselte vom „gemeinsamen Durchbrennen“. Sie würden schon einem Kahn finden, auf dem sie anheuern könnten.

      „Der Mensch kommt immer ans Ziel. Wenn er wirklich will“, sagte Ralle.

      Boris dachte, dass das eher zu Ali passte. Bei dem unbeholfen wirkenden Jungen hörte sich das an, als wäre es auswendig gelernt. Aber er schien davon überzeugt zu sein.

      „Das hört man doch immer wieder“, beteuerte Ralle unternehmungslustig. „Wenn da einer was geschafft hat, was für die anderen unvorstellbar war.“

      Boris ließ den Jungen von Bananendampfern, James Cook und Inselgruppen im südlichen Pazifik schwärmen. Im Rhythmus seiner Schritte wiederholte er beschwörend, dass er Kalinke besiegen würde. Leben oder Tod. Alles oder nichts. Die Geschichte von „Sandra“ kam ihm in den Sinn. Warum hatte Ali dem Kolkraben den Namen seiner ehemaligen Freundin gegeben? Was der Trainer über Frauen sagte, hatte verächtlich geklungen. Als würden sie den Männern nur im Weg stehen. Ali bemühte sich ja geradezu zärtlich um den Vogel? Manchmal lehnte er mit der Stirn am Käfig. Er bewegte die Lippen, aber es war nichts zu hören. Sandra zupfte mit ihrem starken Schnabel an Alis Haaren. Ihr knarrendes „Kloks“ ging in ein Gurren über, als wäre sie ein Täubchen.

      Boris fragte sich auch, warum Menschen so schwer zu begreifen waren? War er sich endlich über einen klar geworden, tat oder sagte der was, das alles wieder durcheinanderbrachte. Vor allem von seinen Eltern konnte er sich kein Bild mehr machen. Der Vater war irgendwo. Im Westen. Zum Feind übergelaufen, wie Ali gesagt hatte. Vielleicht war er ja inzwischen tot. Der Vater war Boris nie nahe gekommen. Am ehesten konnte Boris sich auf seine Nase verlassen. Alles hatte seinen ganz eigenen Geruch. Vom Vater konnte er nicht sagen, wonach der gerochen hatte. Anna roch nach Küche, und sonntags, wenn sie eines ihrer zwei „besten“ Kleider anhatte, nach „4711“, nicht irgendein „Kölnisch Wasser“, sondern das von drüben, das sie nach sparsamem Gebrauch gleich wieder zwischen ihrer Wäsche verwahrte. An Bruno haftete der Geruch von schwerem Tabak und Maschinenöl. Mit dem Verlust des Bildes von seiner Mutter war auch ihr Duft verweht. Manchmal aber wurde er von ihm so überwältigt, dass er sie ganz in seiner Nähe vermutete. Hatte die Mutter nicht nach Blüten, die sie im Frühling sammelte, über den Sommer trocknete und für Tees und zur Herstellung von Cremes verwendete, geduftet? Immer wieder einmal, wie im Vorübergehen, fühlte er sich von ihr berührt. Das war wie ein Abschiednehmen, das ihn wehmütig zurückließ.

      Die Veränderbarkeit der Menschen verwirrte ihn und ließ gerade aufkeimendes Vertrauen wieder absterben. Nur bei den Großeltern gab es keine Veränderungen. Sie blieben, wie sie waren. Ihnen konnte er nahe sein, ohne fürchten zu müssen, verletzt zu werden. Auch Ali war, wie er war. Was er sagte, das stimmte. Was er versprach, das hielt er. Ein Schüler aus der Zehnten, der als Matheass galt, hatte einmal gesagt: „Ali ist eine feste Größe, mit der du rechnen kannst und immer zu einem todsicheren Ergebnis kommst.“

      Nach einem Trainingslauf setzte Boris sich an den Rand der Steilküste. Ralle setzte sich neben ihn und schwadronierte weiter von „Abhauen“ und „fernen Inseln“, da unterbrach Boris ihn: „Was sagst du eigentlich zu Ali?“

      „Zu Ali? Was soll ich da sagen?“

      „Was hältst du von ihm?“

      Boris konnte sich nicht erinnern, dass Ralle irgendeinmal in die allgemeine Begeisterung für Ali eingestimmt hatte. Überhaupt war der teigige Junge, der weder ins Dorf noch hierher zu passen schien, mit seiner Meinung zurückhaltend. Obwohl er einer der klügsten in der Klasse war, hörten sich seine Antworten wie Fragen an. Als suchte er weitere Antworten. Scheinbar ohne Ende. Wenn er aber einen Entschluss gefasst hatte, hielt er hartnäckig daran fest. Im Matheunterricht verblüffte er den Lehrer mit eigenen Rechenwegen. In Erdkunde kannte er sich in den fernsten Ländern besser aus als in seiner nächsten Umgebung.

      „Von Ali?“, wiederholte Ralle. Er griff in die Speichen des alten Rades, wie um ihre Spannung zu prüfen.

      „Ja, von Ali“, beharrte Boris. „Genau.“

      „Willst du es wirklich wissen?“

      „Darum frage ich ja.“

      „Na ja.“ Über Ralles schlaffes Gesicht huschte überraschend der Ausdruck bäuerischer Schläue. Wenn der Großvater nicht mit der Sprache rausrücken wollte, guckte der auch so.

      „Ali ist schon in Ordnung – wenn man es so sehen will.“

      „Wie denn sehen?“

      „Hm. So - von außen eben.“

      „Und wie siehst du

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