Die Gewalt des Sommers. Gunter Preuß

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Die Gewalt des Sommers - Gunter Preuß

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dem Jungen die Arme wegknickten und sein Gesicht auf dem feuchten Sand lag, rügte der Trainer: „Schwach, bei siebenunddreißig standest du, stimmt. Zum letzten Sparring, Kalinke, hat dich in die Mangel genommen, keine Überraschung.“

      Ali schaffte neunzig Liegestütze. Er schüttelte seine Arme und Beine aus, setzte sich neben Boris in den Sand und sagte: „Sage dir, was ein Mann wissen muss, klar.“

      „Ja“, sagte Boris. „Klar doch.“

      „Also“, sagte Ali. „Der alte kubanische Fischer, Santiago, hab erzählt, von ihm, du weißt.“

      „Ja“, sagte Boris. „Das hast du.“

      Der Junge erinnerte sich an die Geschichte, die Ali an einem Pioniernachmittag geradezu andächtig wiedergegeben hatte, als wäre er dabei gewesen. Boris hatte sich das Buch dann ausgeliehen. Der alte Mann war vierundachtzig Tage vergeblich zum Fischfang aufs Meer gefahren. Er schlief in seiner armseligen Hütte und lebte von dem, was die Nachbarn ihm abgaben. Am fünfundachtzigsten Tag fuhr er mit seinem kleinen Boot wieder hinaus und harpunierte endlich den großen Fisch. Drei Tage und Nächte kämpfte er mit dem Schwertfisch. Und als er zu siegen glaubte, jagten ihm die Haie seinen Fang ab.

      „Der Hemingway, lässt Santiago sagen, was Sache ist. Das zählt, nur das.“

      „Ja, Ali, sag´s mir.“

      „Aber der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“

      Alis Blick tastete den eigenen durchtrainierten Körper ab, als wollte er sich bestätigen, dass er einem Kampf auf Leben und Tod gewachsen war. Er nickte, schlug eine kurze Gerade knapp am Kinn des Jungen vorbei, und rief: „Deckung, Mann. Muss im Schlaf sitzen, muss sie. Der Gegner, schläft nicht, wenn er was drauf hat. Der Gegner, du weißt wer?“

      „Das weiß ich“, beeilte sich der Junge zu antworten. Er schmeckte fauligen Fisch, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, ihn fröstelte. „Aber immer, Ali.“

      Ali wies mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. „Drüben, uns gegenüber, ist Schweden. Links Dänemark. Scharf links Westdeutschland. Denk nicht, dass die da drüben pennen, niemals. Heißt wie? Also.“

      „Vorwärts und nie vergessen“, sagte der Junge schneidig. „Wessen Straße ist die Straße? Wessen Welt ist die Welt? Wir oder die? Seid bereit!“

      Der Pionierleiter nickte und lachte. Sie schwiegen, der Junge fror, er spannte die Muskeln an. Ali pfiff leise einen Schlager. Hinter ihnen war die Sonne schnell aufgestiegen - als würde vom Land her eine blutrote Fahne auf der grünen Wasseroberfläche ausgerollt.

      „Was stimmt nicht, was?“, fragte Ali unvermittelt.

      Boris duckte sich, er wollte antworten, fand aber kein Wort.

      „Geht schon“, sagte Ali. „Muss gehen.“

      „Meine Mutter“, sagte Boris schließlich. „Sie ist ...“

      „Weiß“, sagte Ali. „Tut weh, weiß.“

      „Sie ist – weg.“

      „Weg?“

      „Aus meinem Kopf. Einfach weg. Ich meine, ich kriege sie nicht mehr - zusammen. Ihr Bild – nur noch ein dunkler Fleck ...“

      Ali nickte. „Klar“, sagte er nach kurzem Schweigen. Er nickte abermals, sagte fest: „Kriegen wir hin, geht schon.“

      „Ja“, sagte Boris. „Ich weiß.“

      Ali wusste anscheinend über alles Bescheid, was das Geschehen in der Schule und darüber hinaus betraf. Manchmal fragte einer der Jungen scherzhaft, ob er vielleicht hellsehen könne. Ali sagte lachend, dass kleine graue Männlein ihm ab und zu was zuflüstern würden.

      Boris hatte den Großeltern von Alis erstaunlichen Fähigkeiten erzählt. Die hatten sich angesehen. Anna wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Bruno meinte, Boris solle nur einfach seine Sache machen und nicht rumreden. Gahlich, einer aus der Zehnten, ein Punk, der sich nach einem Indianerstamm „Mohawk“ nannte und mit seinem farbenprächtigen Irokesenschnitt wie ein Gockel über den Schulhof stolziert war, hatte gesagt, dass die „kleinen grauen Männlein“ bei der „Stasi“ seien. Die würden den Leuten hinterherschnüffeln. Mohawk war für die Erweiterte Oberschule vorgesehen, verließ dann aber überraschend am Ende der zehnten Klasse die Schule. Es wurde getuschelt, keiner wusste wirklich was. Die Lehrer waren froh, dass Mohawk nicht mehr das „Gesamtbild“ störte, bald war er vergessen.

      Boris hatte dem Pionierleiter gleich vertraut, er war beeindruckt von seinem sicheren Auftreten. Ali besaß noch immer den Ruf eines fairen Boxers. An der Schule erzählte man sich Geschichten aus seiner aktiven Zeit. Für die Teilnahme an einem internationalen Turnier sollte er sogar einem nach ihm rangierenden Boxer den Vortritt gelassen haben. Weil er ihm mehr Chancen für den Titelgewinn eingeräumt hatte. Ali meinte, der Einzelne sei nur so viel wert, wie er der Gemeinschaft von Nutzen war. Er war stark und zäh, eben ein Kämpfer, er sagte von sich selbst, er sei hart, aber gerecht, und wer mit ihm ginge, würde unter den Siegern sein.

      Sie saßen ein paar Minuten schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet. Die eben noch rot glitzernde Oberfläche färbte sich golden, dann hellgrün. Selbst Ali, der sonst immer etwas anpacken und bewegen musste, saß reglos. Boris vergaß ihn, auch die Großeltern, die Mutter, das Dorf, sich selbst, einfach alles. Er hatte die Augen geschlossen und spürte das Streicheln des Windes. In ihm summte zärtlich eine Frauenstimme.

      Wie von weit her kam Boris zu sich. Jungen aus dem Zeltlager sprangen schreiend in die Sandkuhle und kamen zum Strand heruntergerutscht.

      4.

      Die Zeit auf der Insel verging in schnell wechselnden Bildern. Am frühen Morgen pickten die Mädchen und Jungen sich wie Vögel aus dem Ei, sie schüttelten ihre Flügel und schon schwangen sie sich in die Lüfte. Am späten Abend landeten sie flügellahm wieder auf dem Erdboden und ließen sich in einen tiefen Schlaf fallen, um am nächsten Morgen das gleiche lustvolle Spiel zu wiederholen.

      Mit jedem neuen Morgen fiel mehr Last von Boris ab. Das Gewesene blieb immer weiter zurück. Misstrauisch beobachtete er eine Szene wie aus einem Film über eine vergangene Zeit. Nach dem Waschen und dem Morgenappell fuhr täglich um die gleiche Zeit ein Tafelwagen am Essenszelt vor. Ein mächtiger rotbrauner Ochse ging im Geschirr, die großen Augen ausdrucksleer. Eine Frau mit grimmigem Männergesicht sprang gewandt vom Kutschbock und schlug mit einem Treibstock dem Tier zwischen die Hörner, dass es stehen blieb. In ihrem schmutzig-gelben Overall wirkte sie wie eine Wespe, die schlank und emsig umhersurrte. Sie zog die Milchkannen von der Ladefläche und stellte sie in schnurgerader Reihe vor dem Zelteingang auf. Mit schroffer Gebärde lehnte sie jede Hilfe ab. Wenn sie die leeren Kannen aufgeladen hatte, drosch sie abermals mit dem Stock gegen den mächtigen Schädel des Ochsen. Bevor der anruckte, kletterte sie zurück auf den Kutschbock, hatte gleich die Zügel fest in der Hand und knallte mit der dünnen Peitsche. Jedes Mal wichen alle Umstehenden instinktiv zurück. Im gemächlichen Trott des Ochsen entfernte sich der Wagen. Einige der Umstehenden rissen nun Witze darüber, dass sie die Milch nicht in den üblichen Beuteln oder Flaschen, sondern frisch aus der Kuh geliefert bekämen. Und was dieser klapprige Ochsenkarren überhaupt solle? Die Bauern hätten doch genug Autos und überhaupt das meiste Moos. Boris schaute dem Gefährt fasziniert, aber auch abwehrend hinterher, bis nur noch das gelegentliche

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