Die Lohensteinhexe, Teil V. Kristian Winter (winterschlaefer)
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Hier aber machte man eine Ausnahme und stellte bald fest, dass die Beklagte angesichts der ermittelten Schwere niemals hätte fliegen können, wie es für Hexen nun mal erforderlich ist. Und als dann noch der Besenstiel unter ihrer Last zerbrach, nachdem man sie zum Zwecke des Gegenbeweises darauf gesetzt und angehoben hatte, sprach das für ihre Reinheit. So war man um eine Begnadigung nicht umhingekommen, wenn auch mit der Auflage einer lebenslangen Verbannung.
Aber erneut interveniert er, da eine nicht bewiesene Schuld nicht zusätzlich geahndet werden dürfe und erwirkte neben ihrem Bleiberecht zu allem auch noch ihre Anstellung zu seiner Aufwärterin.
Er meinte das im Ernst und begründete dies mit dem Umstand, dass sie durch den Prozess alles verloren hätte und nunmehr völlig mittellos dastünde. Dem Rat obliege somit eine Fürsorgepflicht, welcher er in seiner Person nachkommen wolle.
Damit brüskierte er das Tribunal ein weiteres Mal. Aber selbst das war kalkuliert. Wollte er doch den Nachweis ihrer Unschuld selbst danach noch erbringen. Und wie gelänge das besser, als ihr das Vertrauen auf solche Art auszusprechen und durch eine Bewährung ihre Unschuld zusätzlich zu untermauern? Nebenbei böte sich ihm die Gelegenheit, seine Studien anhand eines aktuellen Falles fortzusetzen und mit diesem Erfolg zweifellos ein Zeichen zu setzen.
Dabei war dieses Weib, eine Wäscherin mit Namen Lydia (über einen Zunamen war nichts bekannt), trotz ihrer gerade mal 18 Jahre alles andere als harmlos. Nicht umsonst verbrachte sie drei Monate im dunklen Verlies, da sie im Verdacht stand, ihr eigenes Kind getötet zu haben – durch Ersäufen wie eine Katze, wie man sagte.
Das mochte man ihr angesichts ihrer zarten Gestalt und des unschuldigen Gesichts gar nicht zutrauen. So glich sie mit ihrem schmächtigen Körper, den tiefliegenden, dunklen Augen und dem erstaunlich ausdruckslosen Gesicht eher einem unbedarften Mädchen, als einer eiskalten Mörderin. Lediglich das markante Muttermal auf der linken Wange hatte etwas Besonderes und hob sie von der grauen Masse sonstiger Bauernweiber heraus, machte sie aber auch in den Augen der Inquisition verdächtig. Sie redete auch nicht viel. Doch was sie sagte, klang erstaunlich offen und ehrlich. Schon deshalb sagte ihm sein Gefühl, dass sie unschuldig sein musste.
Dennoch wirkte etwas an ihr befremdlich. Auch wenn sie trotz ihrer Unscheinbarkeit durchaus nicht hässlich war, ja sogar etwas Einnehmendes ausstrahlte, besonders, wenn sie lächelte, blieb das für ihn irritierend. Es lächelte nur der Mund, nicht aber die Augen, welche in einer sonderbaren Starrheit verharrten und ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes, Unwirkliches gaben.
Vielleicht war es gerade das, was ihn trotz aller Überzeugung von der Richtigkeit seiner Entscheidung dazu brachte, sie eines Abends noch einmal nach den näheren Umständen dieses doch recht schweren Vorwurfs zu befragen.
Er stellte diese Frage übrigens gerade heraus ohne große Umschweife, vielleicht in einem etwas zu harten Ton, aber doch so, dass sie um eine Antwort nicht umhinkam. Sofort nahm sie eine überaus demütige Haltung ein, kniete vor ihm nieder und wollte seine Füße küssen.
Doch er riss sie sofort empor und schleuderte sie so entschieden gegen die Wand, dass der obere Spundbalken zitterte und sie vor Angst erstarrte. Dabei legte er ihr die Hand um die Kehle und sah ihr tief in die Augen. Und bei Gott - er hätte sie auf der Stelle erwürgt, hätte sie es gewagt, ihn jetzt noch anzulügen.
Das war aber gar nicht nötig, denn sie begriff sofort. Nach einem Moment des Schweigens, in dem sich ihr Gesicht mehrfach schmerzhaft verzog, rannen ihr schließlich Tränen über die Wangen und sie begann am ganzen Leib zu zittern.
Dann aber kam sie, zunächst noch etwas zögerlich, mit der Sprache heraus und erzählte ihm etwas, was er so nicht erwartet hätte. Zu seinem Entsetzen gab sie plötzlich alles zu und das in einer Deutlichkeit, wie sie es zu einer Verurteilung nicht besser hätte passen können.
Im ersten Moment mochte er es gar nicht glauben und hielt es für eine Überreaktion infolge seiner bedrohlichen Geste. Doch sie blieb dabei und verteidigte sogar die Anklage, die mit ihrer Bestrafung nur rechtens getan hätte.
Während sie das sagte, so voller Ruhe und Gleichmut, wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen. Er begann zu wanken und sackte schließlich kraftlos auf den Stuhl, wo er sich, die Haare raufend, diese schier unglaubliche Geschichte anhörte.
Ja, es sei wahr. Sie habe das Kind getötet, weil es aus einer inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater stamme; eines, das durch Hasenscharte und Wolfsrachen furchtbar entstellt und ‚unsauber‘ gewesen wäre, weil es ihr der Teufel selbst eingepflanzt habe.
Auch wenn sie die Erinnerung mit Schmerz erfülle, so würde sie es wohl wieder tun, schon um der Schande zu entgehen. Ohne nachzudenken habe sie den kleinen Körper mehrfach gegen einen Baum geschlagen. Aber als es selbst nach dem dritten Schlag noch wimmerte, musste sie es ersäufen, um ganz sicher zu gehen. Sie sagte es tatsächlich so.
Nachdem er das gehört hatte, verlor er jede Fassung. Aber die Vorstellung, einen Mord gedeckt zu haben, brachte ihn schier um den Verstand.
Völlig kopflos sprang er auf, lief vor ihr auf und ab, indes sie ihm stumm nachschaute. Mal blieb er stehen, fasste sich an den Kopf, nahm seine Wanderung dann aber wieder auf.
„Großer Gott, was habe ich getan?“, rief er aus. Und was ging ihm jetzt nicht alles durch den Kopf. Am liebsten hätte er ihr die Misericodia in den Hals gerammt. Wie brachte sie es nur fertig, ihn auch noch so emotionslos anzusehen? Hatte sie denn kein Gewissen?
Aber wie sollte sie. Ein solcher Auswurf verdiente keine Achtung. Er sollte sie auf der Stelle hinauswerfen. Dann aber, inmitten seiner Wut, erwachte in ihm eine große Angst, und er beschwor sie in einem Anflug von Raserei, mit niemandem darüber zu reden.
Doch als er sie dabei packte und unter der Frage, ob sie ihn verstanden habe, vor Angst und Entsetzen zu schütteln begann, begriff er zugleich die Unsinnigkeit dieser Forderung und stieß sie angewidert fort. Sie könne tun, was sie wolle, von ihm habe sie keinen Schutz mehr zu erwarten.
Das Mädchen aber, das in diesem Moment seinen Zustand erkannte, wagte es noch, ihm zaghaft die Hand auf die Schulter zu legen.
„Grämt Euch nicht, edler Dominus. Ihr seid frei von aller Schuld. Ich allein habe gesündigt und muss es vor Gott verantworten.“
„Woher willst du das wissen?“, fuhr er sie daraufhin an und schlug ihre Hand fort. „Woher, verdammt nochmal, soll eine gottverdammte Mörderin wie du wissen, ob ich frei von aller Sünde bin? … Wäre ich es, hätte ich dich bestimmt nicht gerettet!“
In einem Anflug der Raserei erhob er seine Faust und streckte sie mit einem einzigen Schlag zu Boden. Kurz darauf erschrak er und wich entsetzt zurück.
Was hatte er getan? Hatte er sie tatsächlich geschlagen? Zweifellos muss es so gewesen sein, denn sie lag plötzlich vor ihm. Damit nicht genug – der Hieb muss sie so unglücklich getroffen haben, dass sie rücklings gegen den Tisch gefallen und danach mit der Stirn aufgeschlagen war. Die Folge war eine Platzwunde über ihrem linken Auge, aus der dunkles Blut sickerte.
Als er sie plötzlich so reglos vor sich liegen sah, so geschunden und verletzt, kniete er erschrocken neben ihr nieder, bettete ihren Kopf auf seinen Schoß und wischte das Blut von ihrer Wange. Er verfluchte seine Impulsivität, die er in letzte Zeit nicht mehr steuern konnte.