Im Schatten der Schuld. Till Angersbrecht

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Im Schatten der Schuld - Till Angersbrecht

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einen Blick in einen ihrer Notizblocks geworfen, daraus erfuhr ich, dass sie ihren letzten Schritt für den kommenden Tag ankündigt. Sogleich habe ich die Polizei verständigt und auf diese Weise das Verbrechen im letzten Moment verhindert. Ohne mich wäre sie zur Mörderin, vielleicht zur Massenmörderin geworden. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich Julias Unglück bedaure! Jetzt nimmt das Recht seinen Lauf, vermutlich wird meine arme Freundin nie wieder die Freiheit erlangen.

      Ist Marianne Steuben eine Verräterin? Lesen Sie unsere nächste Ausgabe!“

      Herr v. Hochreith schüttelte den Kopf. Er wusste, dass das unmöglich die Worte Marianne Steubens sein konnten, der besten Freundin Julias, die sie zehn Jahre lang jeden Januar, wenn die Temperaturen in Delhi am erträglichsten waren, für eine Woche besuchte und damals beinahe zur Familie gehörte. So hatte sie niemals geredet, das war nicht ihre Art. Er hätte den Artikel am liebsten zerrissen, stattdessen legte er ihn auf das Fensterbrett und ging zu dem Bild, das er mit der Ansicht zur Wand abgestellt hatte. Er drehte es neuerlich um, hing es wieder an den alten Platz. Dann ließ er sich in den Sessel fallen.

      Ein Chronist hat es nicht leicht. Selbst wenn er die Tatsachen einigermaßen verlässlich aus dem Mund der Akteure erfährt, wird er doch niemals in ihren Kopf hineinschauen können. Doch selbst, wenn er sich in ihre Lage versetzt und vielleicht sogar glaubt, wissender oder gar klüger als die Handelnden selbst zu sein, so bleibt er doch immer der unbeteiligte Außenseiter, der über den Schmerz nur berichtet, ohne ihn lindern zu können. Wir lassen einen Mann im ersten Stock der Villa Hochreith zurück, der noch vor wenigen Tagen für viele ein Vorbild, ein Gegenstand der Bewunderung und des Neides war, aber der jetzt nur noch ein Häufchen Elend ist, in dessen Haut kein anderer Mensch stecken möchte.

      Richterin Wollbruck

      Im Gerichtssaal drängen sich die Menschen, selbst im Innenhof des großen Gebäudes in der Marschallstraße herrscht Gedränge, der Sicherheitsdienst hat das zweiflügelige Eingangstor mit Hilfe dreier Wachleute schließen müssen. Daran war natürlich der ungeheure Medienrummel schuld. Ein offenkundig terroristischer Anschlag - das allein hätte schon für einen vollen Saal gesorgt, aber ein Anschlag geplant von einer jungen Frau aus bester Familie, das war eine Sensation, die auf Anhieb zum Gesprächsstoff für Millionen von Menschen wurde. Unbedingt wollte jeder wissen, was für ein Mensch oder besser, was für ein Unmensch diese Tochter aus bestem Hause war. ‚V. Hochreith’, diesen Namen hatte man bisher nur mit Ehrfurcht über die Lippen gebracht. Selbst als die meisten anderen Banken bereits ins Gerede gekommen waren, schien die Bank ‚Hochreith und Brüder’ jenseits allen Zweifels und aller Verdächtigungen zu stehen. V. Hochreith, dieser Name galt als Synonym für Seriosität und Anständigkeit - ein leuchtendes Gestirn an einem Himmel, an dem nur noch wenige Sterne glänzten, zu denen die Leute mit Vertrauen aufblicken konnten. Die Nachricht, dass eine Tochter aus diesem Haus beinahe ein unerhörtes Verbrechen begangen hätte, schlug deshalb im Bewusstsein der Öffentlichkeit wie eine Bombe ein. Von einem Moment auf den anderen hatte der Name allen Glanz eingebüßt, sich schlagartig verdunkelt, statt Vertrauen erregte er nun äußerste Empörung. Dieser lief gleichsam mit einem Sprenggürtel herum. Auch wenn die Ordnungskräfte aufgrund ihres rechtzeitigen Eingreifens die Zündung dieses Gürtels verhindern konnten, der Name war ruiniert, in tausend unförmige Stücke zersprungen, zerfetzt und in den Dreck gezogen.

      Die im Gerichtssaal zusammengeströmten Menschen drängten sich in Erwartung auf einen Schauprozess. Sie hatten einem Namen vertraut und sahen sich in ihrem Vertrauen getäuscht. Das ist es, was Menschen am wenigsten vertragen und wogegen sie sich mit dem Bedürfnis nach Rache wehren. Wenn es kleine Leute, arme Teufel oder Irregeführte sind, die ein derartiges Verbrechen begehen, dann wird das allenfalls noch für begreiflich gehalten; von solchen Leuten kann man sich eben nichts Besseres erwarten. Aber eine Tochter aus einem Hause, das vielen bis dahin als Vorbild galt, das empfinden sie als Betrug, arglistige Täuschung oder schlimmer noch: als Verrat.

      Richterin Wollbruck hatte für solche Gefühle ein feines Gespür. Sie wusste, welche Erregung die Verletzung der öffentlichen Moral außerhalb des Gerichtssaal hervorzurufen vermag. Im Grunde, so ging es ihr durch den Kopf, erwartete die Menge im Saal und natürlich ebenso auch die durch die Presse seit Tagen aufgehetzte Öffentlichkeit eine Art staatlich inszenierter Hinrichtung von ihr, ähnlich wie während der Französischen Revolution, als eine sensationslüsterne Menge mit besonderem Genuss bei der Guillotinierung Dantons und Robespierres zusah, den einstigen Führern des Umsturzes. Die gleichen Gefühle waren auch in diesem Fall zu erwarten. Jemand, der bis dahin ganz oben stand und die besondere Achtung seiner Mitmenschen genoss, der sollte jetzt vor aller Augen ausgepeitscht werden; Julia v. Hochreith hatte die ihr entgegengebrachte Achtung schmählich missbraucht.

      Richterin Wollbruck war allerdings fest entschlossen, sich diesem Bedürfnis nach Rache energisch zu widersetzen. Sie war eine ruhige, nicht leicht zu irritierende Frau. Ihrer unbeirrbaren Gelassenheit und Selbstsicherheit verdankte sie die schnelle Beförderung auf den verantwortungsvollen Posten, den sie seit wenigen Jahren bekleidete. Es war sehr selten, dass jemand mit dreißig das Amt eines Richters übernehmen durfte. Es war außerdem nicht lange her, da wäre es noch undenkbar gewesen, dass die überwiegend maskuline Mannschaft der Jurisprudenz eine Frau mit diesem Amt betraut.

      Thea Wollbruck war sich gleichwohl sicher, dass der Prozess einfach verlaufen würde: eine reine Routine. Die Ausgangslage ließ ja keinerlei Zweifel zu. Julia Hochreith, die Angeklagte, hatte sich den Gürtel umgelegt und sich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum der Stadt begeben. Wohin? Das hatte sie bis dato nicht sagen wollen, trotz intensiver Befragung durch die Kriminalpolizei, vielleicht war es der Gürtler Fleisch- und Gemüsemarkt, auf dem an einem Sonnabend Vormittag regelmäßig mehr als tausend Menschen zusammenströmen. Vielleicht war es die Kathedrale, die Folgen eines Terroranschlags wären dort noch viel grauenhafter gewesen. Die Angeklagte hatte nichts abgestritten, sie zeigte auch keinerlei Reue - eine solche Verbohrtheit sei ihm in seinem ganzen Berufsleben noch nicht vorgekommen, so der Polizeipräsident, der sich die Vernehmungsprotokolle hatte zur Durchsicht und Prüfung übermitteln lassen.

      Die Anwesenheit so vieler Menschen und der gespannte Blick der Öffentlichkeit auf den Prozess waren für Frau Dr. Wollbruck kein Anlass zu besonderer Besorgnis. Die Richterin war sich allerdings durchaus bewusst, dass der voraussehbare Andrang und der mögliche Einfluss, den die Volkswut auf das Verfahren ausüben könnte, vermutlich die Verantwortung dafür trugen, dass man gerade ihr den Prozess übertragen hatte. Gern hätte Thea Wollbruck darin einen Beweis besonderer Wertschätzung vonseiten ihrer Kollegen erblickt. Sie war aber Realistin genug, um zu wissen, dass man einen Fall wie diesen, der in der Öffentlichkeit höchstes Aufsehen erregt, gewöhnlich keinem Richter überträgt, der erst über ein halbes Jahrzehnt Berufserfahrung verfügt. Donnegat und Gersten, die beiden ältesten und wohl auch erfahrensten Richter des Hauses, wären zuallererst in Frage gekommen. Thea Wollbruck musste sich daher eingestehen, dass es weniger eine ihr entgegengebrachte besondere Wertschätzung als vielmehr das Bedürfnis der alten Herren war, das heiße Eisen möglichst weit von sich zu schieben, das sie veranlasst hatte, den Fall an sie abzutreten.

      Tatsache war dann aber, dass Thea Wollbruck den Casus sorg- und bedenkenlos übernommen hatte. Wenn ein Fall so eindeutig ist wie dieser, dann nimmt die Gerechtigkeit ihren durch nichts zu beirrenden Lauf - gerade dieser Umstand verschaffte der Richterin ein Gefühl von Verlässlichkeit und von Ordnung. Zwar war die Welt vorübergehend aus den Fugen geraten, aber sie, die Richterin, trug einen Anteil und ein Verdienst daran, dass die verletzte Ordnung anschließend wieder ins Lot gerät. Darin lag ihr eigener geringer Beitrag, der Beitrag der Jurisprudenz, so hatte es ihr Lehrer Prof. Kunz einmal großspurig, aber im Grunde ganz richtig ausgedrückt, zur Aufrechterhaltung dessen, was Theologen und Philosophen als Weltordnung bezeichnen. Darin liegt der eigentliche Sinn der Jurisprudenz.

      An diese Worte ihres damaligen Lehrers erinnerte sie sich gern. Selten waren ja die Momente echter Befriedigung, die sie mit der Gewissheit beschenkten, einen Beruf gewählt

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